Brisanter Seitenwechsel
Oberster Strafverfolger wird Milieu-Anwalt

Markus Oertle war bis vor kurzem leitender Staatsanwalt der Abteilung für Gewalt- und Sexualdelikte in Zürich. Jetzt stellt er sich in den Dienst von Valentin Landmann.
Publiziert: 19.11.2022 um 18:13 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2022 um 18:25 Uhr
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Markus Oertle arbeitet jetzt in der Kanzlei des schillernden «Milieu-Anwalts» Valentin Landmann.
Foto: Keystone
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Durch die Gerichtssäle des Landes verläuft eine unsichtbare Linie. Sie trennt im Strafprozess zwei Parteien, deren Interessen nicht unterschiedlicher sein könnten: Hier die Staatsanwaltschaft mit ihrem Antrag gegen den Angeklagten, dort die Verteidigung, die für ihren Klienten das Beste herausholen will.

Jetzt hat ein sehr prominenter Ankläger diese Linie überschritten. Markus Oertle (62) leitete in den vergangenen sechs Jahren die Abteilung I der Zürcher Staatsanwaltschaft für schwere Gewaltdelikte. Er stand damit in der Nachfolge des legendären Ganovenjägers Ulrich Weder (71). Wer in Zürich dem wohl wichtigsten Bereich der Staatsanwaltschaft vorsteht, gehört zur ersten Garde im Schweizer Rechtsstaat. Über drei Jahrzehnte lang war Oertle im Auftrag der Allgemeinheit Mördern, Triebtätern, Schlägern, Betrügern und Scharlatanen auf den Fersen. Begonnen hatte er als Bezirksanwalt in Horgen ZH.

Im Juli endete seine Karriere als Strafverfolger. Oertle arbeitet jetzt für die andere Seite – für das Zürcher Anwaltsbüro Landmann.

Die Nachricht hat in Juristen- und Behördenkreisen eingeschlagen wie eine Bombe. Manche Kollegen reiben sich verblüfft die Augen, andere schütteln den Kopf. Und manche fragen sich: Warum?

Es begann mit einem Arbeitskonflikt

SonntagsBlick besuchte die Kanzlei des Strafverteidigers Valentin Landmann (72) in Zürich-Oberstrass. Der «Milieu-Anwalt», wie er oft genannt wird, ist sichtlich stolz auf seinen Neuzugang. Er redet gerne über diesen Coup, erst recht, nachdem jüngst einige Abgänge publik geworden sind. «Markus war einer der intelligentesten und fähigsten Staatsanwälte, mit denen ich zusammen gearbeitet habe», schwärmt Landmann von dem Mann, gegen den er im Auftrag seiner Mandanten immer wieder kämpfen musste.

Und das kam oft vor. Die beiden kennen sich seit Oertles Anfangszeiten. «Wir hatten in x Fällen miteinander zu tun», sagt Landmann. «Valentin war immer angenehm im Umgang und ein brillanter Anwalt», sagt Oertle. Er erinnere sich noch gut an sein erstes Verfahren mit dem langjährigen Widersacher, 1992 sei das gewesen. Es ging um den Vorwurf der Vergewaltigung gegen einen Klienten Landmanns. Gewonnen hat – Landmann. Dessen Markenzeichen ist die Konzilianz mit der Gegenseite, oft rät er Klienten, mit dem Staat zu kooperieren. Was ihm gelegentlich auch Kritik eintrug.

Der Ursprung von Markus Oertles spektakulärem Manöver liegt in einem Arbeitskonflikt. Vor drei Jahren musste er sich einer Herzoperation unterziehen. Nach dem Eingriff spürte er, dass er für den Spitzenjob nicht mehr dieselbe Kraft hatte wie zuvor. Worauf er seine Arbeitgeber um eine Lösung bat, etwa ein reduziertes Pensum und geteilte Verantwortung. Doch die Vorgesetzten zeigten sich weniger flexibel als erhofft; Frühpensionierung mit 62.

Dann wurde ihm klar: Der Ruhestand kann warten. Er wollte seine Erfahrung irgendwo einbringen.

Politisch unterschiedliche Lager

Trotz ihrer unterschiedlichen beruflichen Laufbahn wirken Oertle und Landmann so harmonisch wie zwei Frischverliebte. Dabei liegen sie auch politisch weit auseinander. Landmann sitzt für die SVP im Zürcher Kantonsrat, Oertle ist SP-Mitglied. Gemeinsam ist ihnen die Sympathie für den SP-Politiker Daniel Jositsch (57). Oertle war zeitgleich mit ihm Schulpräsident, er am linken, Jositsch am rechten Seeufer. Landmann wiederum bestellte bei dem Strafrechtsprofessor immer wieder Gutachten, wie das berühmt gewordene über die Hells Angels 2008, gemäss dem der Bikerklub keine kriminelle Organisation ist. Und eben hat er in der «Weltwoche» ein Plädoyer für Jositschs mittlerweile gescheiterte Bundesratskandidatur veröffentlicht («Meiner Ansicht nach ist er die ideale Besetzung»).

Oertle steht bei Landmann nicht im Angestelltenverhältnis, sondern arbeitet als selbständiger Konsulent und Anwalt. Aber ist es nicht seltsam, jemanden an eine Einvernahme zu begleiten und einem ehemaligen Untergebenen gegenüberzusitzen? Was denken die Drogenhändler, Raufbolde und Zuhälter, wenn der langjährige Widersacher plötzlich im Büro ihres eigenen Verteidigers sitzt? Wie reagieren die Mitarbeiter in der Justizbehörde darauf, dass ihr ehemaliger Kadermann auf einmal von der anderen Seite des Verhörraums herüberwinkt?

Einige Dossiers sind tabu

So etwas wie ein «Konkurrenzverbot» zwischen Staatsanwaltschaft und Anwaltskanzleien gebe es nicht, betont Oertle, bei seinem Seitenwechsel ging alles mit rechten Dingen zu. Er legt aber Wert darauf, dass er niemals Fälle annehmen würde, in die er zuvor involviert war. Und ein leitender Staatsanwalt bringt seine Unterschrift in vielen Fällen aufs Papier. Landmann hält fest, dass sein neuer Mann nicht bei Dossiers mitwirken werde, mit denen er vorher bereits in dieser Funktion befasst war.

«Negative Reaktionen habe ich keine vernommen», sagt Oertle zu seinem Übertritt, «ich kann aber nicht ausschliessen, dass jemand nicht happy damit ist.» Nur von einem Mail ist die Rede, das in den Amtsbüros kursiere, in dem Bedenken geäussert würden.

All das interessiert die zwei neuen Bürokollegen nicht. Oertle freut sich auf das Füllhorn an neuen Aufgaben, «auch Wirtschaftsdelikte und Medizinalstraffälle sowie die Vertretung von Geschädigten interessieren mich».

Landmann wiederum hat nun einen Kompagnon an seiner Seite, der die inneren Mechanismen einer Staatsanwaltschaft wie kein Zweiter kennt, der auch mal Tipps geben kann, wie man eine Rechtsschrift oder ein Plädoyer so verfasst, dass es der Gegenseite besonders Mühe bereitet.

Über die Finessen in der Rechtsprechung, die fallweisen Differenzen zwischen einem Mord- und einem Totschlagurteil etwa, kann Landmanns Neuer aus dem Stegreif referieren. Die unsichtbare Linie in den Gerichtssälen scheint in solchen Momenten nebensächlich.

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