Es geschah am Sonntagmorgen vor drei Wochen, im Frühzug von Sitten in Richtung Genf Flughafen: Kurz nach 4.30 Uhr stiegen in Martigny VS rund 200 Jugendliche ein, grölten, pöbelten Reisende an und schubsten sie. Die Gruppe, darunter mehrere Betrunkene, war von einem Fest zurückgekommen – und wurde immer aggressiver. Einige der Jugendlichen zettelten Schlägereien an, zückten sogar Messer. Eine Zugbegleiterin stand dem Mob alleine gegenüber. Auf sich gestellt, geleitete sie die übrigen Reisenden in Wagen der ersten Klasse und versuchte, sie vor den Angreifern zu schützen.
Von ihr und Reisenden alarmiert, warteten am Bahnhof von Saint-Maurice VS zwar einige Polizisten. Doch auch sie konnten die Situation nicht entschärfen, Zug 1702 setzte seine Fahrt mit Verspätung fort. Die Jugendlichen beschädigten Sitze, Scheiben, Toiletten und wüteten enthemmt weiter, obwohl auch an den nächsten Bahnhöfen Polizisten bereitstanden.
Der Zug fuhr bis Lausanne, dann wurde er gestoppt. Die Weiterfahrt nach Genf Flughafen fiel aus. Ein Aufgebot von Transportpolizisten der SBB nahm die verängstigten Reisenden und die schockierte Zugbegleiterin in Empfang, während die Übeltäter verschwanden.
Gegen die Vorgaben
Dass eine Zugbegleiterin allein auf einem Früh- oder Spätzug im Einsatz steht, ist nicht vorgesehen. Die Gewerkschaft SEV reagierte mit Verärgerung auf diesen Vorfall. Selbst wenn – wie vorgegeben – ein Zweierteam mitgefahren wäre, hätte eine Eskalation wie jene vom 21. April nicht verhindert werden können. Doch zumindest wäre die Zugbegleiterin nicht gefährdet worden, argumentieren Personalvertreter, wahrscheinlich hätte sie auch keinen Schock erlitten. Vorfälle wie diesen hält die SEV für alarmierend. Jürg Hurni von der Gewerkschaft kritisiert, dass es vermehrt zu Einerbesetzungen komme, obwohl die SBB den Angestellten zugesichert hätten, bei Spät- und Frühverbindungen zwei Zugbegleiter einzusetzen: «Der Personalmangel wirkt sich gravierend aus.» Unter anderem dadurch, dass Zugbegleiter und Reisende gewalttätigen Passagieren schutz- und machtlos ausgeliefert seien.
Die Randale in der Westschweiz veranlassten den SEV dazu, die Verantwortlichen der SBB in einem Brief auf die unbefriedigende Situation aufmerksam zu machen. In einem Gespräch wollen SBB-Vertreter nun den Vorfall mit der Gewerkschaft analysieren und grundsätzliche Fragen diskutieren. Die Bahn hat ein Treffen anberaumt, das demnächst stattfinden soll.
Vorfall wird analysiert
Die SBB betonen, der Vorfall sei «inakzeptabel». Und dass «normalerweise» zwei Zugbegleiter auf dieser Verbindung eingesetzt werden, dies aber kurzfristig nicht gewährleistet werden konnte, wie Sprecher Reto Schärli sagt. Warum es mit einem Ersatz nicht klappte und weshalb anstelle des fehlenden Zugbegleiters kein Sicherheitspersonal aufgeboten wurde, analysiere man nun. «Die Sicherheit der Angestellten geht über alles», betont Schärli. «Jede Aggression gegen Mitarbeitende der SBB ist eine zu viel.»
Für ihre Zugbegleiter bietet die Bahn Präventionskurse an, «damit sie sich sicher fühlen und in heiklen Situationen deeskalierend eingreifen können», so Schärli. Die Mitarbeiterin, die den aggressiven Jugendlichen alleine gegenüberstehen musste, sei – wie in solchen Fällen üblich – psychologisch betreut worden.
Niemand hat die Übersicht
In Erinnerung ist vielen noch die Geiselnahme in einem Regionalzug zwischen Yverdon VD und Sainte-Croix VD: Im vergangenen Februar hatte ein mit Messer und Axt bewaffneter Mann vier Stunden lang 15 Reisende in seiner Gewalt.
Dass sich Messerattacken häufen, schlägt sich in den Kriminalstatistiken nieder. Ob diese Feststellung auch für den öffentlichen Verkehr gilt, ist unklar. Nicht nur die SBB weisen keine Daten aus, auch das Bundesamt für Verkehr und angefragte Polizeikorps können keine spezifischen Angaben zu Gewaltdelikten in Zügen machen.
Wie häufig Gewalttaten in Zügen sind, ist auch Schärli unbekannt: «Wir können keine statistischen Angaben zu Delikten wie Messerstechereien machen.» Generell lasse sich feststellen, dass der Ton schärfer geworden sei und dass die Gewaltbereitschaft zugenommen habe. Gesellschaftliche Entwicklungen machten vor Zügen oder Bahnhöfen nicht Halt, stellt der SBB-Sprecher fest.
Immer wieder sorgten Ausschreitungen und Sachbeschädigungen in Fanzügen und an Bahnhöfen für Negativschlagzeilen. Hooligans, die uniformiertes SBB-Personal attackierten, hätten die Gewerkschaft bereits früher zur Forderung von Massnahmen zum Schutz der Bahnangestellten veranlasst. Dass jetzt gleich 200 Jugendliche, zum Teil mit Messern bewaffnet, bei der Heimkehr vom Ausgang Zugpersonal, Passagiere und Polizisten in Angst und Schrecken versetzten, bestärkte den SEV in seiner Haltung.
Auseinandersetzungen an der Tagesordnung
Um Straftäter zu belangen, zieht die Transportpolizei die kantonalen Korps bei. «In Zügen sind auch Kriminelle oder alkoholisierte Unruhestifter unterwegs», sagt etwa Bernhard Graser, Sprecher der Kantonspolizei Aargau. Auseinandersetzungen, Übergriffe oder Diebstähle kämen in diesem Umfeld immer wieder vor. Graser hält aber fest: «Ein alarmierender Trend nach oben ist nicht erkennbar.»
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