Bestsellerautor Rolf Dobelli (56) arbeitet täglich an seiner inneren Ruhe. Das geht in Kriegszeiten nicht ohne einen Plan B für den Ernstfall; und für den Autor von «Die Kunst des digitalen Lebens. Wie Sie auf News verzichten» auch nicht ohne wohldosierten News-Konsum. Trotz düsterer Weltlage erscheint Dobelli gut gelaunt zum Gespräch im Odeon in Zürich. Er erklärt, wie er durch diese Zeit kommt – und was er jüngst für das Leben gelernt hat.
Blick: Herr Dobelli, Sie haben sich eine brutale News-Diät verschrieben. Aber leben Sie in diesen spannenden Zeiten wirklich ohne News?
Rolf Dobelli: Ich bin seit Februar weniger strikt. Denn der Krieg in der Ukraine fällt tatsächlich in meinen Interessenkreis. Das Geschehen beeinflusst uns alle auf verschiedenen Ebenen, auch meine Familie. Darum muss ich wissen, was läuft – zeitnah.
Sie sind also wieder zum News-Junkie geworden?
Das nicht. Ich bleibe diszipliniert. Ich konsumiere konzentriert 15 Minuten News pro Woche auf den relevanten Plattformen – das reicht für meine Bedürfnisse. Ansonsten habe ich ein gutes Netzwerk, das mich mit wertvollen Informationen versorgt.
Der Krieg bringt Sie um Ihren Schlaf?
Der Krieg betrifft unsere Lebensentwürfe. Von Fragen wie «Was kann ich tun?» bis zu «Braucht die Familie einen Plan B?», sprich: Was machen wir, wenn die Ukrainer verlieren und die Russen immer näher rücken? Noch 1990 waren über 300'000 russische Soldaten in der DDR stationiert. Doppelt so viele wie heute in der Ukraine. Die DDR-Grenze lag gerade mal 400 Kilometer von der Schweiz entfernt. Der Krieg zwischen Russland und dem Westen hat nie geendet, lediglich unsere klare Sichtweise auf die Weltlage.
Haben Sie vorgesorgt?
Klar. Wir haben vorgesorgt und könnten als Familie einige Tage überleben, sollte es zu einem atomaren Austausch kommen. Mit allem Drum und Dran: Wasser, Nahrungsmittel, Kocher, Bunker, Kurbelradio, Kleider, chemische Masken.
Sie rechnen mit einem Atomkrieg?
Nein. Das Gleichgewicht des Schreckens hat in der Vergangenheit funktioniert und dürfte auch in Zukunft funktionieren. Ich gehe nicht davon aus, dass es zu einer Eskalation kommt, die den ganzen Planeten verwüstet. Aber es gibt ja auch taktische Atomwaffen. Sich vorbereiten heisst: sich mit dem Unwahrscheinlichen befassen, auch wenn es schmerzt. Wer das tut, muss sich auch fragen: Wohin könnten wir flüchten? Und vor allem: Wie genau könnten wir im Fall der Fälle flüchten?
Wohin soll es denn im Ernstfall gehen?
Ideal wären natürlich die USA, das riesige Land ist geostrategisch unglaublich gut gelegen. Oben Kanada, unten Mexiko, das ja de facto den USA gehört, rechts Fische, links Fische. Nur ist es im Kriegsfall nicht so einfach, in die USA zu gelangen, weil die Amerikaner die Grenzen dichtmachen – also brauchen Sie alternative Destinationen. Zum Beispiel Portugal. Weitab vom geopolitischen Theater. Das sind von der Schweiz aus 2000 Kilometer. Da müssen Sie mit dem Auto hinkommen, auch wenn alle Tankstellen geschlossen sind. Sie müssen Treibstoff bunkern und Sie müssen ihn haltbar machen.
Sind Sie im Geiste ein Prepper?
Ich bin jemand, der auch in unruhigen Zeiten den Seelenfrieden sucht. Und was ich gerade geschildert habe, ist eine sehr billige, aber wirksame Versicherung gegen den unwahrscheinlichen, aber nicht ausgeschlossenen Super-GAU. Sie erlaubt mir, weiterhin fokussiert zu leben und zu arbeiten.
Also ist alles doch nur ein Spiel?
Nein, ich gehe die Szenarien mental oft durch. Insofern bin ich vorbereitet, aber nicht fixiert. Und ich zelebriere das auch nicht. Sie haben mich gefragt, ich bin nur ehrlich.
Wie wollen Sie entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt für die Flucht aus der Gefahrenzone gekommen ist? Die Erfahrung lehrt ja: Man begreift und handelt für gewöhnlich immer erst dann, wenn es schon zu spät ist.
Hier gibt es keine allgemeingültigen Kriterien, da haben Sie recht. Tendenziell handeln wir zu spät, und ich versuche, diese Tendenz mit Bereitschaft zu kompensieren. Der damit eingehandelte Seelenfrieden verhilft auch zu mehr Klarheit.
Welche Praktiken pflegen Sie im Alltag, um die innere Ruhe zu bewahren?
Ich pflege in den frühen Morgenstunden die Meditation – nicht die östliche, um die herumschwirrenden Gedanken wegzukegeln, was ja nachweislich nicht funktioniert, sondern die stoische. Ich frage mich: Welche Schwierigkeiten kommen heute, an diesem konkreten heutigen Tag, auf mich zu? Werde ich es heute mit Arschlöchern zu tun haben? Wie gehe ich damit um? Und vor allem: Ich führe mir vor Augen, wie zufällig und fragil das Glück um mich herum ist. Mein eigenes Leben, mein eigenes Schaffen ist ja zu 100 Prozent ein Produkt des Zufalls. Ich bin mit den richtigen Genen in die richtige Postleitzahl geboren. So bin ich dankbar für diesen Zufall, dieses Glück, für meine Familie, meine Freunde, meine Spielwiese, mein Tun.
Also brave Achtsamkeitsübungen?
Brav? Ich habe mir ein Album mit Horrorbildern angefertigt, das ich jeden Morgen durchblättere. Zu sehen sind da Fotos von Solschenizyn im Gulag, Fotos aus dem KZ, Bilder von verstümmelten Gesichtern in Kriegsgebieten, Abbildungen von Hungerbäuchen und Pestkranken im 15. Jahrhundert. Nachdem ich diese Aufnahmen still studiert habe, weiss ich wieder, wie verdammt gut es mir geht. Jedes Jammern verstummt. Der Happiness-Level steigt. Das Gefühl einer Verpflichtung gegenüber der Welt erwacht. Und der Kampf gegen Gewöhnung und Abstumpfung beginnt.
Das wirkt für mich wie ein psychischer Trick, der am Ende doch nicht funktioniert. Man stellt sich das Worst-Case-Szenario vor, bloss um sich dann gleich besser zu fühlen …
Nein. Diese Gräuel sind, historisch betrachtet, eher der Normalfall als die Ausnahme. Das menschliche Leben war jahrtausendelang eine einzige Tragödie, und Tragödien lauern auch heute am Wegrand von jedermann. Sich daran zu erinnern, ist höchst rational. Zugleich lebe ich hier und jetzt und das vergegenwärtige ich mir durch dieses brutal ehrliche Kontrastprogramm. Es wirkt.
Und sonst, wie arbeiten Sie am besseren Menschen, der in Ihnen wohnt?
Irgendwann habe ich begriffen: Wenn du jung bist, solltest du an deinen Stärken arbeiten, wenn du älter bist, an deinen Schwächen. Also habe ich auf meinem iPad Präsentationsfolien programmiert, die mich rund um die Uhr an meine Schwächen erinnern.
Was sind denn Ihre beiden grössten Schwächen?
Muss das sein?
Es muss – gemäss unserem Deal: Ich frage, Sie antworten.
Ich bin zu Hause ein Nörgler, mit Frau und Kindern. Zum Beispiel: Meine Frau und ich hatten uns darauf geeinigt, dass die kleine Rasenfläche unseres Gartens bestehen bleibt. Heisst: als Rasenfläche. Sie jedoch pflanzt über Jahre ihren monatlichen Baum – «schleichende Expansion» nennt sie das –, bis wir in einem Dschungel leben. Ich weise sie regelmässig auf die Verwilderung hin, was zu einem allgemeinen Stimmungstief führt. Nur um dann doch zu begreifen, dass sie uns in all den Jahren einen der aussergewöhnlichsten Gärten geschaffen hat. Er gefällt mir sogar. Die ganze verdammte Nörgelei war für nichts.
Sie arbeiten an der Impulskontrolle. Und zweitens?
Namedropping. Ich habe unbewusst diesen idiotischen Drang zu signalisieren, wen ich alles kenne. Das kommt, evolutionsbiologisch gesehen, aus dem Status-Drive heraus. Aber ist natürlich völlig überflüssig.
Es macht einen Unterschied für Ihre Umwelt, wenn Sie auf den Mund sitzen. Aber kriegen Sie auch den Wunsch weg, diesen unwiderstehlichen Drang?
Das ist der stoische Ansatz: Der Mensch ist ein rationales Wesen. Das unterscheidet uns von allen Tieren. Mit der Ratio kannst du deine alten, zufälligen, toxischen Emotionen und idiotischen Verhaltensweisen abdämpfen. Du musst einfach radikal ehrlich mit dir sein, mit deiner inneren und der äusseren Welt. Du kannst, wenn du willst. Und wenn du es nicht tust, willst du es nicht.
Was auch immer der Mensch empfindet, fühlt oder denkt, stets stimmt er ihm zu, verhält sich dazu. Es ist weder Schicksal noch Zwang. Und das heisst zugleich: Man kann sich davon distanzieren, sich dazu ins Verhältnis setzen.
Gewiss. Nur: Der stärkste Punkt der Stoa ist zugleich der schwächste, jedenfalls aus heutiger Sicht. Denn niemand kann seine Gefühle zu 100 Prozent kontrollieren. Wir wissen heute, wie die Kaskade abläuft: Am Anfang steht ein Impuls. Irgendetwas löst diesen Impuls aus. Du kannst ihn nicht stoppen. Aber schon nach wenigen Sekunden kann dein Bewusstsein einsetzen und seine Arbeit tun. Du hast also eine weitgehende Freiheit, dich zu diesem Impuls zu verhalten – nicht zu 100 Prozent, aber vielleicht zu 90.
Es gibt eine Differenz zwischen Reflex und Reflexion. Damit sind wir bei der Essenz des Stoizismus angelangt. Trennt sich da das schlechte vom guten Leben?
Die Stoiker waren kluge Kerle und haben Handbücher voller Tricks geschrieben, um die Reflexion über den Reflex zu stülpen. Die funktionieren auch 2000 Jahre später noch ziemlich gut. Nur stellen sich die Erfolge schneckenhaft ein, zumal wenn man wie ich spät damit beginnt, die Stoa zu praktizieren – es ist ein ständiger Kampf mit der eigenen Impulssteuerung.
Sie werden nie zum reinen Stoiker, zum Weisen?
Nie.
Die Stoiker – Epiktet, Seneca, Marc Aurel – waren ja ziemlich erfolgreiche Typen. Muss man sich die Weisheit und Bescheidenheit, die sie predigten, also gewissermassen leisten können?
Absolut. Das ist der blinde Fleck der Stoa. Die Stoiker behaupten: Äusserer Erfolg ist nichts, der innere Erfolg ist alles. Ich sehe es anders: Du findest nie deine innere Ruhe, wenn du nicht zu einem gewissen Grad äusseren Erfolg gehabt hast. Die beiden Dinge sind nicht voneinander zu trennen. Das stoische Ideal des bedürfnislosen, postmaterialistischen, sich selbst genügenden Weisen ist ein Hirngespinst.
Warum?
Nun, Erfolg fällt ja nicht vom Himmel, sondern ist eine Kombination aus Leistung und Glück. Und Leistung heisst: Du hast für andere etwas geleistet, du hast sie ernst genommen, und sie haben dich respektiert. Um diesen Respekt geht es. Wie willst du dich selbst je respektieren, wenn du nicht den Respekt der anderen erfahren hast, den du dir verdienen musstest?
Jetzt wirds spannend. Sagen Sie gerade, die Stoa ist die hochtrabende Verzichtsphilosophie jener, die eigentlich zu viel haben?
Die Stoiker haben nicht verstanden, wie zentral Respekt ist. Sie behaupteten: Ob die anderen dich respektieren oder nicht, spielt keine Rolle. Falsch! Ohne Respekt bist du tot. Ohne Respekt wirft dich die Gruppe raus. Das war bei den Jägern und Sammlern so. Ohne deine Gruppe hast du gerade mal einen Tag überlebt. Heutzutage stirbst du zwar nicht nach einem Tag, aber du wirst arm, krank und depressiv. Kurzum, ohne Respekt hast du ein miserables Leben.
Was ist denn eigentlich Respekt? Oder anders gefragt: Wie verschafft man sich Respekt?
Respekt hat zwei Komponenten. Erstens Kompetenz, das heisst, du musst irgendwo überdurchschnittlich gut sein. Du musst über deine Arbeit den anderen Menschen einen Mehrwert liefern. Und zweitens, du bist tugendhaft, ganz simpel: Du hältst dein Wort, man kann dir vertrauen, du tust, was du versprichst, und wenn du Mist baust, entschuldigst du dich und bringst die Sache in Ordnung. Damit man dich respektiert, brauchst du also beides: Kompetenz und Tugendhaftigkeit. Wenn du nur kompetent bist, aber nicht hältst, was du versprichst, verdienst du keinen Respekt. Wenn du inkompetent bist, kann dich die Gesellschaft auch nicht gebrauchen, egal, wie moralisch du bist.
Moralität ist ein gutes Stichwort. Was halten Sie von den Moralisten unserer Tage?
Moralisten sind Sender von moralischen Ideen. Sie verkünden ihre moralischen Lieblingsideen auf den Tausenden Kanälen, die im digitalen Zeitalter allen offenstehen. Das hat epidemische Ausmasse angenommen. Fakt ist: Du kannst die Welt nicht mit grandiosen Ideen retten. Der beste Weg ist die gute Arbeit in deinem eigenen Kompetenzkreis. Dort, wo du wirklich drauskommst. Und dann muss man auch nicht darüber reden.
Haben Sie noch die Uhr, die ständig tickt und den mutmasslichen Zeitpunkt Ihres Todes anzeigt?
Ich habe die Uhr im Büro und die App auf dem Smartphone. Die App zeigt zusätzlich noch die statistisch erwartbare Anzahl produktiver und schmerzfreier Tage an. Dieses Tool ist unverzichtbar – es erinnert mich jeden Tag an meine Pflichten in meinem irdischen Leben.
Rolf Dobelli (56) ist Bestsellerautor und Gründer von Worldminds, einem internationalen Netzwerk von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur, mit Hauptsitz in Zürich. Seine Sachbücher haben sich über 2,5 Millionen Mal verkauft, zuletzt «Die Kunst des digitalen Lebens», «Die Kunst des guten Lebens», «Die Kunst des klugen Handelns» und «Die Kunst des klaren Denkens». Dobelli lebt mit seiner Familie in Bern.
Rolf Dobelli (56) ist Bestsellerautor und Gründer von Worldminds, einem internationalen Netzwerk von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur, mit Hauptsitz in Zürich. Seine Sachbücher haben sich über 2,5 Millionen Mal verkauft, zuletzt «Die Kunst des digitalen Lebens», «Die Kunst des guten Lebens», «Die Kunst des klugen Handelns» und «Die Kunst des klaren Denkens». Dobelli lebt mit seiner Familie in Bern.
Es gibt zwei gleichermassen rationale Reaktionen auf die Tatsache der eigenen Sterblichkeit. Ich kann sagen: Das macht alles keinen Sinn, ich sterbe ja sowieso, die explodierende Sonne wird alles Leben auf dem Planeten Erde auslöschen. Ergo lasse ich mich gehen. Oder ich kann sagen: Das Leben ist kurz, und ich habe nichts zu verlieren, weil ich sowieso sterbe. Also tue ich, was ich wirklich will. Die meisten Menschen entscheiden sich weder für Variante 1 noch 2, sondern für ein Leben im Graubereich dazwischen. Warum?
Stimmt. Der Gedanke an die kosmische Sinnlosigkeit, objektiv richtig, ist kaum auszuhalten. Der Gedanke an die eigene Endlichkeit, objektiv auch richtig, ist allerdings auch kaum zu ertragen. Wenn du ständig auf den eigenen Tod fixiert bist, bist du mental unfrei. Darum meine Zwischenlösung: Denke genau einmal pro Tag an deinen Tod. Ansonsten: Pflege einen spielerischen Umgang mit der Welt. Es ist ja alles nicht so ernst. Arbeite in deinem Kompetenzkreis, arbeite weiter, halte daran fest, auch wenn dich das Leben immer wieder nach unten zieht, wenn Freunde sterben, Projekte scheitern, Krankheiten wuchern, Kriege toben. Versuch es und schau, was passiert – und was das mit dir macht.
That's it?
Ja. Weiter bin ich nicht gekommen. That's it.
Interviewer René Scheu ist Philosoph, Blick-Kolumnist und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.