Am Donnerstagabend marschierten Tausende Corona-Skeptiker durch Bern. Die Stimmung war derart aufgeheizt, dass die Polizei Wasserwerfer einsetzen musste, um die Menschen davon abzuhalten, das Bundeshaus zu stürmen.
An vorderster Demo-Front waren auch die Freiheitstrychler. Die Kuhglocken-läutende Gruppe, die in letzter Zeit so oft die Protestmärsche gegen die Corona-Massnahmen begleitet.
Skeptiker-Symbol
Vor der Pandemie waren die Trychler vor allem in der Innerschweiz bekannt. Besonders im Kanton Schwyz sind die entsprechenden Vereine verbreitet. An Festtagen ziehen sie mit ihren Schellen, oder eben Trycheln, durch die Gassen.
Mittlerweile wurde aus dem urchigen Brauchtum ein Skeptiker-Symbol. In weissen Hemden, auf denen die Kantonswappen und der Schriftzug «Freiheitstrychler» eingestickt sind, marschieren die Männer und Frauen seit Monaten an den Demos mit. Egal ob in Luzern, Bern, Lugano oder Olten – die Trychler, bei denen es sich um einzelne Vertreter verschiedener Vereine handelt – ziehen die Aufmerksamkeit auf sich.
Zu Beginn waren es noch vergleichsweise wenige Personen, einzelne Menschen in der Masse der Skeptiker. Mittlerweile gesellen sich immer mehr Gleichgesinnte dazu. Die Truppe ist von den Demos nicht mehr wegzudenken. Das Läuten ihrer Trycheln nicht zu überhören. Diese Massnahmen-Kritiker gehören zum Bild an den Zügen genauso dazu wie die Anti-Impf-Plakate und die Schweizer Flaggen. An der Demo letzte Woche verbreiteten sie ihre Botschaft: Nur wer gegen die Zertifikatspflicht ist, sei ein echter Schweizer.
SVP-Nationalrat Köppel: «Dort müsst ihr hin!»
Nicht nur an den Demos sind sie stets omnipräsent. Sie suchen auch die Nähe ausgewählter Politiker – und umgekehrt. Im Juni begleitete die Schellen-Gruppe den Aufzug der SVP auf den Hügel über Morschach im Kanton Schwyz. Auch der Zürcher Roger Köppel (56) war mit dabei.
Der Nationalrat gab sich dort als grosser Fan der Trychler – obwohl diese keine Gelegenheit auslassen, Seite an Seite mit Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen zu marschieren. «Die Trychler sind die letzte Verteidigungslinie der Schweiz», sagte Köppel. Und er fordert die Trycheln-schwingenden Mitglieder auf, mal vor das Bundeshaus zu ziehen und für Lärm sorgen. «Dort musst ihr hin!» Worte, denen die Gruppe nun am Donnerstagabend Folge geleistet hat.
Mehr zu Trychlern und Demo in Bern
Maurers Provokation im Trychler-Hemd
Am vergangenen Sonntag bekundete der nächste SVP-Exponent öffentlich seine Sympathie für die Massnahmen-Gegner. Bundesrat Ueli Maurer (70) posierte provokativ an einer SVP-Veranstaltung im Trychler-Hemd. Mit dem Shirt outete sich Maurer quasi als Anhänger der Kritiker jener Massnahmen, die der Gesamtbundesrat beschlossen hat.
Schon in einem Blick-Interview vor zwei Wochen zeigte Mauer Verständnis für die Massnahmen- und Impfgegner. «Das sind nicht einfach Spinner und Verschwörungstheoretiker, sondern senkrechte Schweizer», sagte er.
Seine Provokation löste bei vielen Kritik aus. Grünen-Präsident Balthasar Glättli (49) sagte: «Ueli Maurer spaltet aktiv das Land, statt mitzuhelfen, die Gräben zuzuschütten.» Deutliche Worte kommen auch aus der sonst diplomatischen Mitte. «Diesen Massnahmenkritikern noch mehr Auftrieb geben?», fragt Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger (57) auf Twitter. «Bei allem Respekt, Herr Bundesrat Maurer. Das ist daneben.»
Maurers Parteikollege Köppel eilte dem Bundesrat dagegen zur Hilfe. Auf Twitter teilte er mehrere Bilder mit diversen Trychlern sowie ein Foto von sich – ebenfalls in einem Freiheitstrychler-Hemd und mit einer kleinen Bimmel-Glocke in der Hand. «Solidarität mit Ueli Maurer, dem Freiheitstrychler der Stunde!», schrieb Köppel.
Und auch die Trychler selbst schlagen in die gleiche Kerbe, unterstützen ihre neue Galionsfigur in der Szene. In einschlägigen Telegram-Chats teilen sie Fotos von Sonntag, auf denen sie jeweils mit Maurer posieren. «Unser Mann», feiern sie den SVP-Politiker. Der neue Kult gipfelt am Donnerstag auf dem Bundesplatz in Sprechchören, die lautstark «Ueli, Ueli, Ueli» skandieren.
Die «letzte Verteidigungslinie» in Leuchtwesten
Doch die «senkrechten Schweizer» radikalisieren sich zunehmend. Auch die Trychler, die Maurer mit seinem Auftritt offenbar nun bestärkt hat, marschieren nicht mehr bloss mit ihren Trycheln mit.
In einem Facebook-Video von Donnerstagabend zeigen sich die Trychler neu auch in gelben Warnwesten. «Sicherheit» steht darauf, direkt unter dem bereits bekannten Freiheitstrychler-Logo. Die urchigen Mannen mausern sich neuerdings zur Demo-Security im Mittelpunkt des eskalierten Bundeshaus-Protests. Offenbar nehmen sie die Worte von Roger Köppel wörtlich und inszenieren sich selbst nun als die «letzte Verteidigungslinie».
Vor dem Bundesplatz zerren sie die von einer Handvoll Gegendemonstranten aufgestellten Absperrgitter zur Seite. Es kommt zu Auseinandersetzungen und Wortgefechten. Die Trychler in ihren Westen stossen die Gegengruppe weg, es wird ruppig. Einer der «Trychler-Securitys» kommt dabei zu Fall und verletzt sich im Mund. Es ist Christian «Chrigi» Rüegg aus Wald ZH. Rüegg ist ein Corona-Skeptiker der ersten Stunde, der schon mehrfach am Rande von Demos durch wirre Thesen und besonders aufmüpfiges Verhalten aufgefallen war. Auch für diese Kreise sind die «Freiheitstrychler» mittlerweile offen.