Haben Sie nun Angst um ihr Leben?
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Blick TV in Kandersteg BE:Haben Sie nun Angst um ihr Leben?

Kandersteg BE droht der Mega-Felssturz – trotzdem gibt der Gemeindepräsident Entwarnung
«Wir wissen 49 Stunden vorher, wenn etwas ins Dorf runterkommen würde»

Am Dienstag kommt es in Kandersteg BE zum Felssturz – 500'000 Kubikmeter Gestein könnten die nächsten Tage runterkommen. Trotzdem macht man sich in der Gemeinde keine Sorgen.
Publiziert: 26.08.2022 um 00:18 Uhr
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Aktualisiert: 24.02.2023 um 11:49 Uhr
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René Maeder, Gemeinderatspräsident von Kandersteg BE, vor dem Modell des Hanges, an dem der Fels nach und nach abstürzt.
Foto: Ralph Donghi
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Ralph DonghiReporter News

Seit dem Felssturz vom Dienstag mit rund 10'000 Kubikmetern Stein klingelt das Handy des Gemeinderatspräsidenten von Kandersteg BE fast ununterbrochen. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt René Maeder (69) zu Blick. «Alle wollen etwas von mir.»

Dennoch nimmt er sich am Donnerstag Zeit und zeigt vor Ort die Stelle zwischen dem Oeschinensee und dem Dorfkern, wo es passierte – und wo in den nächsten Tagen weitere 500'000 Kubikmeter Fels abbrechen könnten. «Niemand darf im Moment näher ran», erklärt Maeder und ergänzt: «Die meisten Wanderwege vom Dorf bis zum See waren schon vor dem Felssturz am Dienstag gesperrt.»

Messungen warnen 49 Stunden im Voraus

Der Grund: Das Felsgebiet, genannt «Spitze Stein», am Doldenhorn südlich des Oeschinensees, ist seit 2018 verstärkt in Bewegung. Am 20. Dezember 2019 brachen bereits rund 15'000 Kubikmeter Fels ab und stürzten ins Tal. Verletzt wurde niemand. «Dort wohnt auch niemand», hält Maeder fest. «Und wenn sich alle Spaziergänger und Wanderer an unsere Vorgaben halten, wird auch weiterhin niemand verletzt.»

Experten führen inzwischen die Verschiebungen auf den Rückgang des Permafrosts im Boden zurück. «Das Gebiet wird deshalb längst mit technischen Geräten überwacht», sagt Maeder. Dies geschieht etwa mit GPS, Spiegeln und Radar. «Wir wissen durch die uns gemeldeten Messungen mindestens 49 Stunden vorher, wenn etwas ins Dorf runterkommen würde.»

Elf Millionen Franken für die Sicherheit

Dennoch dürfe man die Naturgewalt nicht unterschätzen, sagt Maeder. Nach dem Felssturz am Dienstag sei der Fels mit einer Geschwindigkeit von 20 Zentimeter pro Tag in Bewegung gewesen. «Inzwischen ging sie auf unter zehn Zentimeter zurück.» Immer noch taxiert die Gemeinde die aktuellen Bewegungsraten als erhöht. Sollte sich der Hang jedoch weiter beruhigen, könnte schon bald eine Senkung des Sicherheitslevels auf jenes von letzter Woche ins Auge gefasst werden.

«Da ein grosser Felsbrocken runtergekommen ist und es so trocken ist, hat es eine grosse Staubwolke gegeben», sagt Maeder. «Das hat natürlich spektakulär ausgesehen. Doch ins Tal runter kam ja nicht mal etwas!» Und wenn, dann sei man dort inzwischen vorbereitet. Mit Netzen, Dämmen, einem Überlaufkorridor und einem Gesamtkonzept, «damit das Wasser am Ende in der Kander landet». Man habe zusammen mit dem Kanton über elf Millionen Franken für dieses Schutzkonzept ausgegeben.

«Wollen eine Zukunft in dieser wunderbaren Gegend»

So hat etwa Anwohnerin Ursula Künzi (76) einen eben fertiggestellten Damm vor ihrem Haus gekriegt. «Es wurde seit Ende Juni daran gebaut», so die pensionierte Kauffrau. Sie und ihr Mann hätten nichts dagegen gehabt. «Wir wohnen seit 1986 in dem Haus und möchten ja auch gerne hierbleiben.» Zudem sehe es mit den grossen Steinen, die unter anderem gelegt wurden, «nicht einmal so schlecht aus», sagt Künzi. Sie hofft, dass der Damm dann auch etwas nützt, wenn dann mal irgendwann das Wasser an ihrem Grundstück vorbeigeleitet werden müsste. «Hoffentlich ist es dann nicht der ganze See. Dann würde der Damm wohl nichts nützen.»

Etwas weiter weg von den Künzis hat Alt-SVP-Bundesrat Adolf Ogi (80) seinen Zweitwohnsitz in Kandersteg. Er fährt mit Blick zu seinem Lieblingsplatz – auf die Höh. «Naturgefahren sind vorhanden, und man muss sie ernst nehmen», sagt Ogi. Deshalb findet er es gut, dass so viel Geld in Schutzmassnahmen investiert wurden. Denn: «Die Jungen hier in Kandersteg müssen eine Zukunft sehen und im Konkurrenzkampf, etwa im Tourismus, bestehen können!» Man dürfe der Jugend nicht die Hoffnung wegnehmen. Man habe im Dorf bereits keinen Polizeiposten, keine Poststelle, keinen Metzger und kein Bahnhofbuffet mehr. «Diese Entwicklung ist auch dramatisch», sagt Ogi. «Doch wir alle wollen eine Zukunft in dieser wunderbaren Gegend in Kandersteg.» Spaziergänger oder Wanderer, die sich nicht an die Regeln der Gemeinde halten, findet er «unverantwortlich».

Die Touristen kommen weiter in Scharen

Einer, der schon mal einen geschlossenen Wanderweg im Berner Oberland ignoriert hat, ist Hans Schärer (79). «Ich wandere schliesslich auch schon seit 60 Jahren», sagt der pensionierte Kaufmann aus Winterthur ZH. «Da kann das schon mal passieren, auch wenn es ein Fehler war.» Mehr Sorgen macht er sich um die Zukunft unserer Berge. «Auf den ersten Blick ist es meist der Gletscherschwund, den ich fast überall sehe», so Schärer. Und: «Es wird noch prekärer werden und schneller gehen, als man meint.» Vor Felsstürzen habe er dennoch keine Angst. Klar ist aber: «Ein Restrisiko bleibt in den Bergen immer. Man muss einfach vorsichtig sein.»

Das ist Noah Jude (24) «auf jeden Fall», wie er sagt. Der Regisseur aus Thun BE zeigt seiner Freundin zum ersten Mal den Oeschinensee und will mit ihr nur erlaubte Wanderwege gehen. «Ich habe schon vom Felssturz gehört. Doch wenn wir auf der anderen Seite zum See rauflaufen, sollte laut Gemeinde ja kein Risiko bestehen.» Angst habe er keine. Auch wenn er glaubt, dass die Vorsichtsmassnahmen «wohl nicht reichen würden, wenn alles auf einmal runter kommen würde». Zum Glück seien es bisher nur «isolierte Vorfälle» gewesen. Leute, die sich nicht an die Auflagen halten, könne man nicht stoppen, glaub Noah Jude. «Die wollen halt ihr Abenteuer haben.»

Gefahrenstufen aufgehoben

Noch hat der letzte Felssturz vom Dienstag in Kandersteg offensichtlich keinen Einfluss auf den Tourismus: Besucherinnen und Besucher kommen weiterhin in Scharen. Wie etwa die Musikerin Maria Bazhkova (29) aus Belarus, die zurzeit in Luzern lebt. «Ich habe viele geöffnete Wanderwege gefunden. Und es war sehr schön am See», sagt sie. Sie habe keine Angst gehabt, als sie vom Felssturz hörte – es mache sie eher traurig, «weil es vielleicht wegen dem Klima passiert ist».

Mittlerweile hat sich die Gefahr entschärft. Die Gemeinde hob am Freitagmorgen die entsprechenden Gefahrenstufen und Massnahmen auf. Durch die prognostizierten Niederschläge könnte noch Schutt ins Rutschen kommen.

Solche kleinere Erdrutsche könnten jederzeit auftreten, teilte die Gemeinde Kandersteg mit. Sie sollten sich auf die Sperrzone begrenzen. Sollte sich der Hang wieder stärker bewegen, würde die Gemeinde das melden. Die Überwachungsdaten würden laufend analysiert.

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