Die Augen von Helene Müller (58) werden wässrig, als sie von ihrem letzten Jahr mit dem Virus erzählt. Seit 33 Jahren arbeitet sie als Pflegerin auf der Intensivpflegestation (IPS) im Spital Emmental in Burgdorf BE – und hat dabei viel erlebt.
Trotzdem haben sie die oft tragischen Krankheitsverläufe der Covid-Patienten erschüttert: «Man merkt ja, dass ich zwischendurch den Tränen nahe bin, da kann man sicher nichts von abgehärtet sagen. Es bewegt und berührt jedes Schicksal.»
Die zweite Welle flutet die Station
Die erste Welle im letzten März plätscherte in Burgdorf noch vor sich hin. Die Zeit nutzten die Angestellten, um sich zu wappnen und zusätzliches Personal auszubilden. Genau in dieser Phase war die Solidarität der Bevölkerung für die Pflege wohl grösser denn je. Die Menschen klatschten sogar auf ihren Balkonen.
Darauf angesprochen, lacht die Bernerin herzlich und meint bloss: «Das Klatschen hat mich jetzt nicht aus den Socken gehauen. Ich wünsche mir mehr, dass die Pflege auch in Zukunft mehr Beachtung bekommt.»
Dann kam der Herbst – und die zweite Welle. Sie überrollte das Spital. «Während Monaten hatten wir es sehr streng. Wir sind hier am Feierabend mit einem leeren Kopf raus – und dann ging nichts mehr», erinnert sich die erfahrene Pflegekraft und ergänzt: «Da haben wir wirklich Grenzerfahrungen erlebt.»
Kampf um jeden Patienten
Die vielen Todesfälle seien hart zu verkraften gewesen, sagt sie zu BLICK: «Wir haben um jeden Einzelnen gekämpft. Der erste Kampf war dann meistens der, dass der Patient nicht an das Beatmungsgerät muss.»
Oft habe man sich aber schon in dieser Schlacht geschlagen geben müssen, so Müller. Und: «Bei manchen hatte man wirklich das Gefühl, dass es bergauf geht. Doch plötzlich ging es ihnen ganz schnell sehr viel schlechter. Dann haben wir sie verloren. Das geht an die Substanz.»
Besonders stressig sei auch die ganze Logistik ringsum gewesen. Die Kranken hätten wegen der grossen Ansteckungsgefahr in verschiedene Zonen eingeteilt werden müssen – manchmal sei sogar die Intensivstation in bis zu vier Bereiche aufgeteilt gewesen.
Wechsel um Wechsel
«Wir hatten einerseits die bestätigten Covid-Patienten. Andererseits gab es die Verdachtsfälle, bei denen man jeden einzeln isolieren musste. Und schliesslich hatten wir auch immer noch Patienten ohne Corona», erklärt die Emmentalerin. «Sobald dann ein Verdachtsfall zu einem bestätigten Fall wurde, musste der in die Covid-Zone verlegt werden. Das bedeutete jedes Mal einen riesigen Aufwand.»
Nach jedem Bereichswechsel musste sie sich zudem auch komplett umziehen. «Man sieht von aussen halt immer nur die pflegerische Seite. Aber diese vielen kleinen Dinge drum herum haben uns manchmal fast um den Verstand gebracht.»
Ausgleich dank Pferd und E-Velo
Mit dem Druck musste sie trotz jahrelanger Erfahrung erst mal lernen umzugehen. Ihren Ausgleich hat Müller dabei stets auf dem E-Velo gefunden – oder beim Pferd, das sie sich mit ihrer Tochter teilt. Dennoch: «Manchmal konnte ich nicht mehr auf dem Ross sitzen und es kontrollieren. Ich konnte einfach nicht mehr.» Anstatt zu reiten, marschierte sie dann mit dem Pferd stundenlang durch die Gegend. Müller schmunzelt. «Er ist ein wirklich guter Zuhörer und zudem ziemlich verschwiegen.»
Das Fazit der Pflegerin nach diesem Jahr? «Ich habe schon viele Stürme erlebt und weiss daher, dass es immer einen Weg zum Weitergehen gibt. Aber das Jahr war wirklich traurig und herausfordernd. Es war zwar nicht alles schlecht, aber eine Wiederholung möchte ich so bald nicht wieder erleben.»