Urs T.* (65) sitzt in adretter Anzug-Hose und mit dunkelblauer Daunenjacke auf der Anklagebank: Dem älteren Herrn mit grauen Haaren und einer braunen modernen Kunststoff-Brille werden unter anderem vorsätzliche Tötung sowie versuchte Tötung und sexuelle Handlungen mit Kindern vorgeworfen, seit Donnerstag muss er sich deswegen vor dem Regionalgericht Oberland in Thun BE verantworten.
Der LKW-Chauffeur streitet den Hauptvorwurf jedoch ab, bricht bei der Einvernahme sogar einmal kurz in Tränen aus: Er sei nicht für den Tod des Flüchtlings Amar M.* (†18) verantwortlich, der am 24. Mai 2019 in Kiental BE spurlos verschwand und einen Tag später tot im Gamchibach unten in der Griesschlucht aufgefunden wurde. «Ich habe nichts mit diesem Fall zu tun», sagt er und verweist auf das Aussageverweigerungsrecht. Die Staatsanwaltschaft geht hingegen davon aus, dass der Berner den jungen Mann in den Tod geschubst hat – Beweise dafür hat sie jedoch keine wirklich Handfesten, lediglich Indizien.
Trotz Handydaten: Beschuldigter streitet Vorwürfe ab
Die Gerichtspräsidentin hält ihm jedoch die Auswertungen seines Mobiltelefons vor: Man habe gesehen, dass er mit dem Toten Kontakt gehabt habe. Doch auch das streitet der Beschuldigte ab.
Überhaupt auf die Schliche gekommen sind die Strafverfolgungsbehörden dem einstigen Car-Chauffeur, weil im Herbst 2019 ein zweiter fast identischer Fall passierte – doch das zweite Opfer vom mutmasslichen Killer den Todesstoss in die Schlucht überlebte. Auf einem Stein harrte der damals 29-jährige Afghane aus, bis er am nächsten Tag mit letzter Kraft aus der Schlucht kletterte. «Ich hatte Todesangst», sagt er am Donnerstag vor Gericht. Er erzählt, dass er und der Berner für länger als drei Jahre ein Verhältnis miteinander gepflegt hätten: Freundschaftlich und auch sexuell, für die sexuellen Handlungen sei er bezahlt worden.
Unter Vorwand zur Schlucht gelockt
Am 4. November 2019 sei er von Urs T. unter einem Vorwand zur Schlucht gelockt worden: «Er hat mich gebeten, ihm beim Vermessen zu helfen», so der Geschädigte. Bei seiner Befragung gestand der Angeklagte jedoch ein: «Ja, das war eine fiktive Vermessung, das gebe ich heute zu. Ich wollte einfach mehr Zeit mit ihm verbringen.» Er habe das genossen, meint er: «Und wenn wir länger miteinander unterwegs waren, hatten wir halt meistens sogar zweimal Sex.»
Dass er den heute 31-Jährigen jedoch beim Vermessen kurzerhand in die Tiefe gestossen haben soll und ihn so habe umbringen wollen, diesen Vorwurf aus der Anklageschrift streitet er klar ab. Er behauptet, der junge Mann sei bekifft gewesen und ins Elend gestolpert oder ausgerutscht – er habe ihn dann halt nicht mehr gesehen und sei geschockt gewesen, habe nicht mehr gewusst, was er machen solle. «Ich hatte nur einen halben Joint gekifft und ich kiffe so oft, dass ich das gar nicht mehr spüre», sagte das Opfer hingegen aus und beharrt auf dem Standpunkt, beinahe in den Tod geschubst worden zu sein.
Sexuelle Handlungen mit Kindern und Minderjährigen
Kurz nachdem die tragischen Vorfälle ans Licht gekommen waren, besuchte Blick den Wohnort des mutmasslichen Täters. Im Dorf rankten sich wilde Gerüchte um den Verdächtigen. Eines davon taucht nun aber tatsächlich auch in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft wieder auf: Urs T. werden auch sexuelle Nötigung sowie sexuelle Handlungen mit Kindern und Minderjährigen vorgeworfen!
Mit einem unter 16-Jährigen soll er sich beispielsweise ungefähr 20-mal getroffen haben, etwa in einem Waldstück in der Region Thun. Die Rede ist unter anderem von Anal- und Oralverkehr – der Chauffeur habe den Jugendlichen laut der Staatsanwaltschaft dafür bezahlt. Er gesteht grösstenteils die ihm vorgeworfenen Taten, jedoch lasse sich über das Alter streiten – das sei «bei Afghanen immer so eine Sache».
«Jeder möchte doch lieber jemand Jüngeres»
Ob denn das Alter bei der Wahl seiner Partner eine Rolle gespielt habe, erkundigte sich die Gerichtspräsidentin bei Urs T. Dieser entgegnete: «Das ist wie in jeder Partnerschaft, jeder möchte doch lieber jemand Jüngeres. Wenn Sie einen Mann suchen, dann wollen Sie ja auch keinen 90-Jährigen.»
Die Zeit in Haft sei ihm jedoch «eingefahren», nochmals würde er sich solche Taten nicht zu Schulden kommen lassen wollen. «Ich habe einen Fehler gemacht», sagte er beispielsweise, als ihn die Gerichtspräsidentin zu den sexuellen Handlungen mit einem Buben befragt.
Ausufernde Antworten
Generell schweifte der Häftling bei der Befragung immer wieder ab, holte weit aus oder beantwortete die gestellte Frage nicht wirklich befriedigend. Wiederholt bat die Gerichtspräsidentin den Berner, schneller auf den Punkt zu kommen und strukturierter zu antworten.
Dieser wiederum wollte jedoch seinen Kopf durchstieren und beharrte darauf, beispielsweise seinen Lebenslauf herunterzulesen. Erst nach mehrmaliger Aufforderung der Richterin liess er es dann doch noch bleiben.
Staatsanwaltschaft fordert 19 Jahre Knast
Die Staatsanwältin hielt am Donnerstagnachmittag ihr Plädoyer. Sie breitete die einzelnen Indizien wie beispielsweise Aussagen der Geschädigten, Autopsieberichte sowie Handyauswertungen vor dem Gericht aus und erklärte schliesslich: «Die Mosaiksteine ergeben ein gut erkennbares Bild.» Urs T. ist aus ihrer Sicht in allen Punkten schuldig zu sprechen – er solle zu 19 Jahren Knast verurteilt werden. Ausserdem will sie ein lebenslanges Verbot für sämtliche Tätigkeiten, die regelmässigen Kontakt zu Minderjährigen beinhalten.
Für den mutmasslichen Männer-Schubser gilt die Unschuldsvermutung – sein Verteidiger wollte gegenüber Blick bislang keine Stellung nehmen, sein Plädoyer ist für Freitag geplant. Das Urteil wird am 17. Oktober 2022 erwartet.
* Namen geändert