«Wir müssen die Betreuung jeden Tag neu organisieren»
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Mutter klagt über Situation:«Wir müssen die Betreuung jeden Tag neu organisieren»

Behindertenheim wirft Paolo M. raus – seine Mutter prangert an
«Sie gaben mir nur 6 Stunden, um ein neues Zuhause zu finden»

Im Zürcher Heim «Tobias-Haus» wird ein Schwerbehinderter innerhalb eines Tages vor die Tür gesetzt. Blick-Recherchen ergeben: Der Rausschmiss des jungen Paolo M. (22) ist wohl nur die Spitze des Eisberges. Hinter den Kulissen des Heims herrscht Chaos.
Publiziert: 12.12.2023 um 00:24 Uhr
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Aktualisiert: 12.12.2023 um 10:52 Uhr
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Gianna M. (48) wächst die Situation über den Kopf. Seit ihr behinderter Sohn Paolo (22) fristlos aus dem Behindertenheim Tobias-Haus entlassen wurde, ist nichts, wie es vorher war.
Foto: Linda Käsbohrer
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Sebastian BabicReporter Blick

Gianna M.* (48) traute ihren Ohren nicht, als sie den Anruf bekam, der das Leben ihrer ganzen Familie in Chaos stürzen sollte. Am anderen Ende der Leitung war das Tobias-Haus. Eine Einrichtung in Zürich, wo Menschen mit Behinderung ganztags betreut werden. «Von einem Tag auf den anderen sollte mein behinderter Sohn Paolo* (22) das Heim, in dem er die letzten zehn Monate gelebt hat, verlassen», so M. 

Paolo hat das Prader-Willi-Syndrom (PWS), eine schwere Behinderung. Erkrankte leiden unter anderem unter Kleinwuchs, verminderten Muskelwachstum, fehlender Impulskontrolle und geistiger Beeinträchtigung. «Er hat den Stand eines Dreijährigen», fasst die Mutter das Krankheitsbild zusammen. Nichtsdestotrotz nehmen Betroffene ihr Umfeld genau wahr und empfinden Freude wie jeder andere auch. Und im Tobias-Haus war Paolo ausserordentlich glücklich, so M.

«Sie gaben mir nur 6 Stunden, um ein neues Zuhause für meinen Sohn zu finden», erzürnt sich M. Bereits einen Monat zuvor hatte das Tobias-Haus die Kündigung ausgesprochen. Die schriftliche Begründung: «Paolo braucht eine Betreuungsleistung, die die Stiftung Tobias-Haus nicht gewährleisten kann.» M. erklärt: «Eigentlich hätten uns dafür aber die vertraglich vereinbarten drei Monate Kündigungsfrist zur Verfügung gestanden». 

Aber nach nur vier Wochen war Schluss. Paolo wurde fristlos aus dem Heim geworfen. Auch an der Begründung des Heims hegt M. Zweifel. Laut ihr hat sich der Betreuungsaufwand für Paolo nicht geändert. «Er wurde in allen Zwischenberichten gelobt!»

Familienchaos nach Rauswurf

Die Familie kümmert sich seit dem Rauswurf um die Betreuung. Vater und Mutter leben getrennt und wechseln sich damit ab. Zudem helfen auch Paolos Grosseltern mit, wenn sie können: «Die Situation ist für ihn aber alles andere als optimal. Bei mir hat er nicht einmal ein eigenes Zimmer.» Beide Eltern sind berufstätig. Seinen Vater begleitet Paolo jeweils zur Arbeit. «Hätte mein Ex-Mann nicht so einen verständnisvollen Arbeitgeber, wüssten wir nicht, wie wir Paolo überhaupt betreuen sollten», erklärt M.

Zudem hat sich Paolos Persönlichkeit seit dem Rausschmiss zum Negativen verändert. «Er wurde aus seinem sicheren Umfeld gerissen. Die Situation kann bei ihm zu Stimmungsschwankungen und Wutanfällen führen», so M.

Das bestätigt auch der PWS-Experte und Facharzt für Endokrinologie, Udo Meinhardt (55), auf Blick-Anfrage: «Man muss sich diese Situation wie einen Sturm im Kopf vorstellen. Die Betroffenen können sich teilweise nicht mehr kontrollieren, wenn sich der Alltag ohne Vorwarnung verändert.» 

Auch in einem stabilen Umfeld könne es immer wieder zu Problemen kommen. «Plötzliche Veränderungen befeuern diese aber zusätzlich», so Meinhardt, «erwachsene Betroffene haben teilweise unheimlich Kraft. Es ist schwer, sie zu kontrollieren», so der Facharzt.

Vom Musterschüler zur «Persona non grata»

Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass ein junger Mann, der wenige Wochen zuvor in einem Zwischenbericht des Heims noch als «Bereicherung für die Gruppe» bezeichnet wurde, das Heim von einem Tag auf den anderen verlassen musste? «Im Tobias-Haus herrscht das pure Chaos!», behauptet Gianna M.: Personalmangel, hohe Fluktuation und Führungsprobleme.

Nach einem unerwarteten Todesfall eines Bewohners des Tobias-Hauses sei die ehemalige Leiterin der Institution fristlos entlassen worden. «Zuvor war schon ein Sachwalter eingesetzt worden, woraufhin der Stiftungsrat in corpore zurücktrat», erzählt M. Bereits zuvor habe ein gewichtiger Teil des Teams das Heim verlassen.

Das bestätigt der ehemalige Stiftungsratspräsident Wolfgang Koch (72) auf Anfrage: «Das kantonale Sozialamt wollte den Stiftungsrat dazu bringen, die ehemalige Leiterin zu entlassen. Nachdem ein Sachwalter eingesetzt wurde, sprach dieser gegen unseren ausdrücklichen Rat die Kündigung aus. Das wollten wir nicht mittragen und sind deshalb alle gemeinsam zurückgetreten.» 

Zudem bestätigt er auch, dass es im Verlaufe des Jahres zu einer Kündigungswelle kam. Angesprochen auf den Rauswurf Paolos reagiert Koch fassungslos: «Ich habe die Geschichte am Rande mitbekommen. Eigentlich ist das rechtlich überhaupt nicht erlaubt, ohne eine Anschlusslösung für den Bewohner!»

Diese gab es allerdings nicht. Zwar habe die Leitung des Tobias-Hauses eine weiter entfernte Stiftung angefragt: «Das betreffende Heim hatten wir aber, bevor Paolo ins Tobias-Haus ging, kategorisch ausgeschlossen. Mit über zwei Stunden Anfahrt war es zudem sehr weit weg», so Gianna M.

Die aktuelle Interimsleiterin des Tobias-Hauses ist gleichzeitig Betriebsleiterin eines weiteren Wohnheims. Laut Gianna M. habe sie wegen dieser Doppelbelastung «den Laden nicht im Griff». Auf Anfrage widerspricht das Tobias-Haus. Die Leiterin verfüge über genügend Ressourcen. Wolfgang Koch zweifelt an dieser Darstellung: «Die geschasste Leiterin hatte ein Pensum weit über den üblichen 100 Prozent. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das Heim in Teilzeit führen kann, wie dies aktuell der Fall zu sein scheint.»

Personalmangel und fehlende Führung

Das Heim leide unter akutem Personalmangel und fehlender Führungsstruktur, so M. Auf Nachfrage von Blick äussern sich weder Heim noch der vom Sozialamt eingesetzte Sachwalter konkret zur Personalsituation. Auch auf zahlreiche andere Fragen geht das Heim mit Verweis auf das Persönlichkeitsrecht nicht ein. Wolfgang Koch bestätigt aber, dass es im Verlaufe des Jahres zu zahlreichen Abgängen gekommen sei. Wie die Situation aktuell ist, entziehe sich aber seiner Kenntnis.

Sowohl der Sachwalter als auch die aktuelle Interimsleiterin betonen gegenüber Blick, dass die Betreuungsleistung für die Bewohner – trotz der aktuellen Vorgänge – garantiert sei. Für Paolo gilt das aber offensichtlich nicht.

* Namen geändert

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