Sie spüren nicht, wenn sie frieren und Hunger haben. Bis zu sechsmal täglich rauchen sie Crack, manche berauschen sich zusätzlich mit Heroin. Dieses Ausmass des Drogenelends ist eine neue Realität – nicht nur in Genf oder Zürich.
Auch in Lausanne, Vevey, Olten, Basel, Luzern oder Chur haben sich neue Drogenszenen gebildet. An Crack kommen die Süchtigen günstig, die Droge ist zudem leicht erhältlich.
BAG lud im November zum runden Tisch
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) will dieser Entwicklung entgegentreten und hat deshalb einen runden Tisch einberufen – nachdem von den Städten der Ruf nach einem gemeinsamen Lösungsansatz laut geworden war.
Eine erste Begegnung, an der 60 Fachleuten teilnahmen, fand bereits im November statt, ein zweiter runder Tisch ist für Juni angesetzt. In absehbarer Zeit wird das BAG zudem einen Bericht mit Empfehlungen zum Umgang mit Crack vorlegen.
Dass sich das BAG mit den Vertretern lokaler Behördenvertretern zusammengesetzt hat, begründet Sprecherin Céline Reymond damit, dass die Städte bereits diverse Erfahrungen mit der Crack-Misere gemacht hätten. «Nun sollen die Unterstützungsmöglichkeiten von Seiten des Bundes geklärt werden», sagt Reymond. «Es geht darum, gemeinsame Lösungen zu finden.»
Es gelte, die seit Jahrzehnten bewährte Vier-Säulen-Politik aus Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression auf die neuen Gegebenheiten auszurichten. «Vor allem die Schadensminderung gewinnt an Bedeutung», hält Reymond fest. Sie erklärt dies damit, dass Crack-Süchtige oft physisch und psychisch angeschlagen, arbeitslos und obdachlos seien.
Ihre Situation müsse stabilisiert werden, «um die Lage im öffentlichen Raum zu beruhigen». Gerade auch, weil der Crack-Konsum häufig mit einer Zunahme von Gewalttaten verbunden sei, wie Reymond ergänzt.
In den USA sorgt das synthetische Opioid Fentanyl für grosses Elend, Zehntausende von Abhängigen starben allein in den letzten Monaten wegen des Konsums. Hierzulande gebe es kaum Hinweise auf eine Verbreitung von Fentanyl, weder bei Abwassermessungen noch bei Importen, so BAG-Sprecherin Reymond. «Wir verfolgen aber die Entwicklung.»
Drogenpolitik muss überdacht werden
Experte Frank Zobel von der Stiftung Sucht Schweiz betont, die Crack-Milieus in den Städten sei uneinheitlich. Zudem könnten nun nicht einfach die Cannabis-Pilotprojekte für das Crack-Problem übernommen werden. Kokain sei als Substanz viel toxischer und gefährlicher. «Es ist an der Zeit, sich zu überlegen, wie wir unsere Drogenpolitik an eine neue Situation anpassen können», sagt Zobel.
Die Forderung nach einer neuen Drogenpolitik kommt auch aus Genf. Die Vier-Säulen-Strategie müsse den neuen Gegebenheiten angepasst werden, sagt Thomas Herquel, Präsident eines Vereins, der Süchtigen einen Raum anbietet, um Drogen zu konsumieren. Es sei zu klären, wie die Akteure stärker zusammenarbeiten können und wie die Diskussion über eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes angestossen werden könne.
Bemühungen des BAG werden geschätzt
Die Stadt Zürich begrüsse die Bemühungen des BAG, den Erfahrungs- und Wissensaustausch zu fördern, sagt Heike Isselhorst, Sprecherin des Sozialdepartements. Auch wenn die Drogenszenen unterschiedlich geprägt seien und es nicht für jede Situation eine übergeordnete Lösung gebe, «kann eine gemeinsame Stossrichtung definiert werden.»
In Zürich suchen laut Isselhorst täglich rund 200 Süchtige die städtische Anlaufstelle auf. Dass sie nach vorübergehender Schliessung nun wieder geöffnet sei, habe zu einer merklichen Entspannung der Situation im öffentlichen Raum geführt.
Im Gegensatz zu Zürich stehen den Abhängigen in Chur keine Räume für den Drogenkonsum zur Verfügung. Rund 30 obdachlose Süchtige seien Tag und Nacht draussen anzutreffen, sagt der zuständige Stadtrat Patrik Degiacomi.
Angesichts des Crack-Elends bestehe Handlungsbedarf. «Grundsätzlich ist die Vier-Säulen-Politik eine Erfolgsgeschichte», sagt Degiacomi. Doch sie sei zu lange stehen geblieben und müsse sich weiterentwickeln. «Das Problem erfordert eine schnellere Gangart.»