Sorgenvoll richten die Menschen von Brienz GR ihren Blick nach oben. Über dem Bündner 124-Seelen-Ort rutscht der Steilhang. Nun drohen sich zwei Millionen Kubikmeter Schiefergestein zu lösen und auf die Häuser zu stürzen. Im Dorf zu bleiben, ist zu gefährlich. Die Gemeinde will alle Einwohner bis Freitag evakuieren. Vielleicht gibt es keine Heimkehr mehr. Kommt der Fels bis ins Dorf, werden die Häuser wohl zerstört. Die nächsten Tage und Wochen werden es zeigen.
Auch André Tscherrig (87) aus Gondo-Zwischbergen VS schaut zum Berg hinauf. Nicht aus Sorge, sondern mit tief sitzendem Schmerz. Von dort kam vor 23 Jahren die Tod bringende Gewalt. Damals war es kein Felssturz. Und im Gegensatz zu Brienz kündigte sich das Unglück im kleinen Grenzort zu Italien nicht an.
Die Schlammlawine kam zur Zeit der Messe
Es war jener verhängnisvolle 14. Oktober 2000. Die Glocken hatten zur Messe geläutet. Kurz nach zehn Uhr strömten die Menschen zum Dorfplatz. Ein Glück im Unglück. Denn sonst hätte es möglicherweise noch mehr Todesopfer gegeben. Heftige Regenfälle hatten die Schutzwand am Berg unterspült. Plötzlich brach sie. Wasser, Schlamm, Geröll stürzten den Hang hinunter. In nur 20 Sekunden erreichten sie das Dorf.
«Wir hatten Messe. Ich stand vor der Kirche», erinnert sich André Tscherrig, «da hörten wir einen Mordskrach.» Der Geschäftsmann schaut wie die anderen rechts zum Berg, von wo das Tosen kam. «Ich sah die Schlammlawine kommen, wie eine riesige Zuckermasse goss sie sich durch den Ort. Sie riss Teile des Stockalperturms weg und viele Häuser. Die Menschen haben geschrien.» Stunden später wusste man schon: Es gab viele Tote.
Tscherrig selbst verliert an Gondos «schwarzem Wochenende» sein Elternhaus und seine Habe. Der Neffe, der sich zum Zeitpunkt des Unglücks im Haus befand, wurde vom Murgang erfasst und getötet. «Das war das Allerschmerzhafteste», sagt André Tscherrig.
Naturkatastrophe zerstört auch Zukunft des Dorfes
Ein solches Schicksal bleibt der Bündner Gemeinde Brienz erspart. Dank der Evakuierungsaktion wird es keine Opfer geben, keine Panik und keine Trauer um Verschüttete. Doch spurlos wird das Schicksal des kleinen Ortes nahe Tiefencastel GR nicht an ihren Bewohnern vorbeigehen. Auch davon, was eine Naturkatastrophe für die Zukunft eines Dorfes bedeutet, kann André Tscherrig berichten.
«Vor dem Murgang war Gondo wunderbar. Gondo hatte drei Restaurants, drei Banken, viele Vereine», sagt Tscherrig.
Am Grenzübergang, wo jetzt seine Wechselstube steht, habe früher die Walliser Bank gestanden und der Lebensmittelladen seiner Eltern. «In Gondo lebten über 200 Menschen. Jetzt sind es nur 60», sagt Tscherrig. Viele junge Paare seien fortgezogen. Die Zollstation ist heute nur noch stundenweise besetzt. Selbst die Schule habe man geschlossen.
«Nichts ist mehr so wie früher»
Dort, wo das dreistöckige Haus, in dem einst André Tscherrig, die Eltern und seine Schwester mit ihrem Sohn lebten, ist nur noch eine grüne Wiese. «Meine Frau und ich fühlten uns damals schon zu alt, um nochmals neu zu bauen», sagt der rüstige Gondoneser. Sie verliessen das zerstörte Dorf und zogen nach Ried-Brig VS. Doch Ehefrau Mari (84) wollte zurück in ihr geliebtes Gondo.
«Nichts ist mehr so wie früher», sagt auch Mari Tscherrig, «es ist nicht mehr die Heimat, wie sie einst war.» Ehemann André fügt hinzu: «Der Murgang hat dem Dorf auch die Seele fortgerissen.»
Einen Trost hat das Ehepaar dennoch für die Leidensgenossen aus Brienz. «Als das Mass der Zerstörung deutlich wurden, hat man überlegt, ob man Gondo nicht verlassen sollte», erzählt André Tscherrig, «doch die Solidarität der Schweizer war so gross und es gab so viele Spenden, dass man beschlossen hat, Gondo wieder aufzubauen.»