Der Rossberg bricht ab. Mergel bröckelt, brockt, Spalten tun sich auf. Der Hang bei Goldau SZ rutscht talwärts, gnadenlos über alles hinweg. Treppen, Tische und Stühle. Höfe, Häuser und Scheunen. Kirche und Pfarrer. Eltern und Kinder. Der Berg kollabiert. Begräbt vier Dörfer unter seinem Schuttmantel.
Ein Zeuge: «Mit brausendem Donnergetöse sahen wir die ungeheure Bergwand (...) in fürchterlich langsamen Wellenbewegungen auf uns losstürzen.»*
Ein Opfer: «Der Berg ist gekommen und hat mir alles genommen, das mir lieb war. Meine Frau, die Kinder und unser Heimetli. Mein ganzes Leben.»
Nach vier Minuten war alles vorbei, aber nicht vorüber.
Ein Arzt: «Das letzte Angstgeschrey der vom unvermeidlichen Tode bedrohten Goldauer durchheult noch einen Augenblick die trübe Luft und die dunkle Schreckensgegend.»
Die Bauernmagd Franziska Ulrich hängt eine Nacht lang mit den Füssen nach oben eingekeilt zwischen zwei Balken, das Blut aus einer Wunde am Kopf läuft ihr in die Augen, sie sieht nichts, ist orientierungslos. Man rettet sie.
Franz Henggeler und seine Ehefrau Mariana stecken bis zum Hals im Schlamm. Als die Helfer sie befreien, ist der Brustkorb der Frau schon eingedrückt, alle Rippen gebrochen. Alles Helfen hilft nichts.
Die Bilder von Leiden, von Tod lasten auf den Goldauern. Ein Arzt-Bericht hält fest: «Mehrere Wochen, erzählte die Wirthin, habe diese beklemmende Angst fortgedauert, die allen Schlaf hinderte, an jedem trüben Regentage verstärkt erwachte, und bey jedem ungewohnten Geräusche die Herzen mit den Schrecken des Untergangs erfüllte.»
457 Menschen sterben am 2. September 1806. Mit ihnen: 185 Kühe und Rinder, 209 Schafe. Zurück bleiben: 220 Menschen. Sie bauen auf den Trümmern neue Häuser, ein neues Dorf.
Zurück bleibt auch ein Marker im kollektiven Gedächtnis: Der Bergsturz von Goldau ist die tödlichste Naturkatastrophe in der Geschichte der Schweiz.
Die Schweiz und ihre Katastrophenangst
Jetzt steht Brienz GR im Fokus. Auch Brienz rutscht. Muss evakuiert werden. Brienz ist nicht Goldau. Trotzdem wabert Goldau irgendwie unsichtbar mit, wenn wir nun wieder über Brienz reden.
Dazu gibt es in der Fachwelt eine These, die der Klimahistoriker Christian Pfister im Buch «Katastrophen und ihre Bewältigung» aufwirft: Naturkatastrophen und der Umgang damit sind Teil der Schweizer Identität. Seit dem 19. Jahrhundert.
Besonderes Merkmal dieser Identität: Die Angst davor. Die Angst vor der Katastrophe – doppelt Peter Utz, emeritierter Literaturprofessor, im Buch «Kultivierung der Katastrophe» nach.
Katastrophe stammt aus dem Griechischen. Bedeutet Wendung, meint ursprünglich den Wendepunkt der Handlung in der griechischen Tragödie. Da, wo sich das Schicksal des Helden zum Guten oder zum Schlechten hin gabelt. Heute meint es ausschliesslich: Worst Case. GAU.
Auf nichts Geringeres machen wir Schweizerinnen und Schweizer uns immer wieder gefasst: den grössten anzunehmenden Unfall. Im Grossen: Brienz, Kandersteg, jedes Zucken in besonders gefährdeten Erdrutsch- und Bergsturzregionen registrieren die Geologen mit ihren Geräten. Und im Kleinen: Hochwasser, Hagel, Erdbeben – wir sichern uns ab. Auch wenn wir in den allermeisten Fällen höchstwahrscheinlich nie betroffen sind. Doch im Kopf, im Kopf sind wir ruckzuck bei ihnen: Katastrophen und der Frage, wie wir ihnen beikommen.
Das schlägt sich laut Peter Utz in der grossen Schweizer Literatur nieder.
Bei Charles-Ferdinand Ramuz. Der Waadtländer schrieb in der Erzählung «Derborence» über den massiven Bergsturz, der im Jahr 1714 eine Alp im Wallis begrub und Elend schuf: «‹Der Berg ist gestürzt.› ‹Welcher Berg?› ‹Die Diablerets.› ‹Und wohin ist er gestürzt?› ‹Auf Derborence.› Da hat Therese gesagt: ‹Und die Männer?› (...) ‹Und Anton, wo ist er?› Sie schreit: ‹Anton! Anton! Mein Mann! Mein lieber Mann!›»
Oder Friedrich Dürrenmatt. In seinem letzten Werk «Durcheinandertal» werden die Menschen «von einer Hilfswut und Wohltätigkeitsorgie erfasst», sobald «die Erde bebte, die Ströme über die Ufer traten, Lawinen niederdonnerten, Berghänge rutschten, Vulkane auseinanderbrachen». Am Ende parodiert er die Schweiz, lässt stellvertretend das Kurhaus für Milliardäre und Banditen in Flammen aufgehen, die auch das Alpendorf erfassen.
Peter Utz zeigt: In der Katastrophe liegt eine Kraft. Es klingt zynisch, doch: Sie schweisst zusammen.
Goldau stösst Schweizer Katastrophenhilfe an
Goldau. Was jene Katastrophe auch war: ein Anfang. Durch den Bergsturz entwickelte die Schweiz – mit dem Begriff von Klimahistoriker Pfister – eine «Katastrophenkultur».
Was das heisst, weiss der Mann, der sich sein ganzes Berufsleben mit Bergen und ihrer Vergangenheit beschäftigt hat: Jon Mathieu, emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Luzern. Karfreitag, wir erreichen ihn daheim in Burgdorf BE, eine Wolkenwand und loses Schneegestöber vernebeln seine Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Doch Mathieu sieht klar, sagt: «Goldau war wichtig für das Wir-Gefühl der Schweiz als Nation.»
Die Schweiz war in einer politisch schwierigen Situation. Sieben Jahre zuvor war Napoleon eingedrungen, bis 1813 blieb die Schweiz ein französischer Vasallenstaat. Fremdbestimmung, Demütigung – die Schweiz als Nation mit einer starken eigenen Identität und Selbstbewusstsein gab es nicht. Sie war erst im Aufbau.
Goldau half mit. Jon Mathieu sagt, wie: «Der Bergsturz war die erste Naturkatastrophe in der Schweiz, die eine nationale Hilfsaktion auslöste.»
Der oberste Magistrat der Schweiz, der Basler Andreas Merian, rief sie 1806 aus. Stellte die Katastrophe in seinen Worten an alle Kantonsregierungen als Chance dar: «Jeder Schweizer wird durch seine Spende zum Beförderer des gemeinen Wohls, die Theilnahme an demselben so wie hernach die Dankbarkeit der Getrösteten zum National-Gefühl, und die Eidgenössischen Eintracht, die ächte Bruderliebe (...) (wird) dadurch ungemein begünstiget.»
Der Sammeltopf mit Schweizerkreuz füllte sich: 165’000 Franken kamen zusammen – heute wären dies über 40 Millionen Franken.
Goldau kittete die Menschen aus allen Sprachregionen zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Was die Aktion auch zeigt – gerade im Hinblick auf die aktuelle Debatte darum, wie viel die Lösung das Brienz-Problem kosten darf: Katastrophenhilfe steckt in der Schweizer DNA. Die Schweiz kann Katastrophe. Muss es können.
Die Extremereignisse werden extremer werden
Flavio Anselmetti ist Geologe und Naturgefahrenforscher an der Universität Bern, schaut, welche Erdbeben, Erdrutsche, Bergstürze die Schweiz formten. Er sagt: «Die Schweiz ist ein Bergsturzland.»
Immer wieder bricht, rutscht, schiefert es. Oft unbemerkt, doch manchmal so brutal, dass es Löcher in Familien reisst, ein kurzer Abriss:
1881 – Elm am Plattenberg GL: Weil zu viel Schiefergestein abgebaut worden ist, brachen zehn Millionen Kubikmeter Stein ab, 114 Menschen starben.
1939 – Vidaz bei Flims GR: 720’000 Kubikmeter Fels brachen ab, 13 Heimkinder und fünf Erwachsene kamen ums Leben.
2000 – Gondo VS: Ein Erdrutsch zerstörte ein Drittel des Dörfchens, riss 13 Menschen in den Tod.
2017 – Bondo GR: Über drei Millionen Kubikmeter Gestein brachen vom Piz Cengalo ab, acht Wanderer starben.
Vergangene Woche schnürte Anselmetti seine Wanderschuhe, stapfte durch die Umgebung von Flims, auf den Überresten des Bergsturzes «von apokalyptischem Ausmass», wie er am Telefon sagt. Vor 9500 Jahren knetete die 500 Meter dicke Schuttschicht das Gebiet neu. Das ist extrem, doch es ist der Lauf der Dinge. Anselmetti erklärt: «Die Landschaft ist ständig in Bewegung.» Bäche, Flüsse, Gletscher, Bergstürze – sie bearbeiten die Erdoberfläche, schleifen, formen sie, führen Material ab. Je mehr Material wegkommt, desto mehr hebt sich die Oberfläche, und umso mehr Material trägt sich wieder ab. Aus den Alpen entsteht ein Gebirge wie im Schwarzwald. Ein natürliches Perpetuum mobile. Vor Jahrmillionen angestossen.
Doch, und das ist der Punkt: Das ändert sich gerade. «Der Klimawandel», sagt Anselmetti. «Er bringt alles aus dem Lot.» Er stösst die rhythmischen Bewegungen der Erde aus dem Takt. Oder mit Anselmettis Worten: «Er beschleunigt die Umlagerungen auf der Oberfläche brutal.» Warme Luft transportiert mehr Wasser, treibt den Wasserkreislauf in der Atmosphäre an. Führt zu intensiveren Niederschlägen, schmelzendem Permafrost. All das löst mehr Gestein. Führt mehr ab. Für Anselmetti ist klar: «Die Intensität der Extremereignisse wird zunehmen.»
Am Bergsturz in Goldau war der Regen schuld. In Brienz tränkt unter anderem das Schmelzwasser den Problemhang. Die Nation bangt mit. Täglich Schlagzeilen. Die Brienzer halten sich bereit, packen Pass, Führerausweis, Bargeld, Bankkarten, Mobiltelefon, Fotoalben, und die Behörden raten: «Nehmen Sie Ihre Haustiere mit.»
Die Brienzer haben eine Chance. Goldau war verloren. Doch rappelte es sich wieder auf. Und hält das Ereignis in Erinnerung: Jedes Jahr am 2. September um 17 Uhr, als der halbe Rossberg runterdonnerte, läutet die grosse Glocke der Pfarrkirche. Und bis vor einigen Jahren trug der Priester noch das Messgewand, das die Trümmer 1806 freigaben.
* Die historischen Zitate am Anfang dieses Textes stammen aus den Büchern: «Die Glocken von Goldau: eine akustisch orientierte Nachlese zum Goldauer Bergsturz» von Margrit Wyder und «Der Bergsturz von Goldau als Zimmerdenkmal» von Burkard von Roda.