Bündner Bergdorf ist in Alarmbereitschaft
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Es droht die Evakuierung:Bündner Bergdorf ist in Alarmbereitschaft

Evakuierung wird vorbereitet
Brienz GR droht grösste Umsiedlung der Schweizer Geschichte

Das Bergdorf Brienz im Bündner Albulatal rutscht ab. Nun droht auch ein Bergsturz. Mit dem Klimawandel dürften solche Ereignisse zunehmen.
Publiziert: 09.04.2023 um 10:59 Uhr
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Aktualisiert: 10.04.2023 um 08:29 Uhr
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Brienz rutscht. Nun droht auch noch ein Felssturz. Die Gesteinsmassen am Piz Linard bewegen sich seit kurzem gefährlich schnell.
Foto: keystone-sda.ch
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Der Kirchturm steht schief, die Häuser zeigen tiefe Risse und die Strasse zum Dorf wird nicht mehr asphaltiert, weil der Belag immer wieder aufplatzte. Brienz im Bündner Albulatal verliert den Boden unter den Füssen. Rutscht Richtung Tal. Einen Meter pro Jahr. Viel zu viel ist das, aber weniger als auch schon.

Nun hat auch noch der Berg Fieber. Ein Teil des Hanges, die «Insel», bewegt sich nach unten, mittlerweile jährlich bis zu 32 Meter. Im März bewegte sich die Masse nochmals deutlich schneller. Ab Frühsommer könnte daraus ein Bergsturz werden, heisst es im Informationsbulletin von Anfang Woche.

Schlimmstenfalls gehen dann 56 Millionen Kubikmeter Fels vom Piz Linard aufs Dorf nieder – vierzehnmal so viel wie 2017 in Bondo GR. Die Geröllmassen würden Brienz begraben und sich bis hinunter ins Tal nach Tiefencastel schieben.

Auf Evakuierung vorbereiten

Ein Bewohner sagte zur Zeitung «Südostschweiz»: «Wir sehen tagtäglich, was da herunterkommt, und in den letzten zwei, drei Wochen war das extrem. Wer sagt, er habe keine Angst, lügt.» Das Rumpeln habe in den letzten zwei Wochen massiv zugenommen, meint eine zweite Einwohnerin. «Oft in der Nacht.»

Ein Ereignis mit grossen Felsstürzen sei zwar wenig wahrscheinlich, betont das Bulletin, aber auch nicht mehr auszuschliessen. Die Bevölkerung müsse sich auf die Evakuierung vorbereiten. Nächsten Donnerstag wird genauer informiert.

68 Millionen Franken hat der Schutz von Brienz im rätoromanischen Brinzauls bisher gekostet. Ein neuer unterirdischer Entwässerungsstollen hat den Boden unter dem Dorf beruhigt.

Gegen 300 Wohnungen wären betroffen

Doch gegen den Berg ist man nicht gefeit: Technik steht gegen Natur, David gegen Goliath. Und Brienz läuft die Zeit davon. Seit 2021 gibt es deshalb auch ein anderes Szenario: das der Umsiedlung. Für eine halbe Million Franken hat der Kanton Graubünden 2021 eine entsprechende Studie in Auftrag gegeben.

72 Einwohner und rund 50 Gäste müssten wegziehen, im Extremfall sind gegen 300 Wohnungen betroffen. Es wäre die grösste Umsiedlungsaktion der Schweiz. Für die Brienzer der letzte Ausweg.

Doch vielleicht auch bald der einzige. Das Dorf ist seit Menschengedenken in Bewegung, doch in den letzten 20 Jahren hat sich die Rutschung stark beschleunigt. Es gibt Hinweise, dass der Klimawandel dazu beiträgt.

In Horlaui LU wurde bereits umgesiedelt

Die Schweizer Bergregionen sind von diesem besonders stark betroffen. Der Grund sind unter anderem die steigenden Temperaturen: Gletscher ziehen sich zurück, der Permafrost beginnt zu schmelzen. Unsere Berge werden instabiler. Laut dem neusten Bericht des Weltklimarats werden mit der Zunahme von Naturgefahren in Bergregionen Umsiedlungen an einzelnen Orten unausweichlich. Nicht nur in Brienz, auch in Bondo GR und Guttannen BE werden solche Szenarien diskutiert.

Man arbeite weiterhin an sehr umfangreichen Abklärungen, sagt der Kommunikationsverantwortliche Christian Gartmann. Auch zum Thema Umsiedlung gebe es am Donnerstag neue Informationen, Mitte Mai dann ausführlichere.

Ein Schweizer Präzedenzfall ist das Gebiet Horlaui in der Luzerner Gemeinde Weggis. Dort kam es 2014 zur bisher grössten präventiven Umsiedlungsaktion wegen Umweltgefahren. Die Gemeinde am Fuss der Rigi war immer wieder von Felsstürzen und Hangmuren betroffen. Studien zeigten, dass die Felsen jederzeit abbrechen und Bewohnerinnen und Bewohner tödlich verletzen könnten. Fünf Wohnhäuser wurden geräumt und abgerissen. Zehn Menschen verloren ihr Zuhause.

Im Fall Horlaui kam es zu langen Rechtsstreitigkeiten: Betroffene forderten eine höhere Entschädigung oder klagten gegen den Abriss. Denn das Gebiet Laugneri, nur wenige Hundert Meter entfernt, wurde mit zehn Millionen Franken geschützt. Studien zufolge war eine Rettung technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll. Das Bundesgericht wies beide Beschwerden ab.

4100 Quadratkilometer durch Rutschungen gefährdet

Wann rettet man ein Dorf? Wann überlässt man es seinem Schicksal? Auch diese Fragen sind im Fall Brienz aktueller denn je.

Das Bundesamt für Umwelt hat fürs SRF berechnet, dass schweizweit rund 4100 Quadratkilometer durch Rutschungen gefährdet sind – zehn Prozent der Schweiz, ein Gebiet mit 160'000 Gebäuden, 2,5-mal so gross wie der Kanton Zürich. Die meisten dieser Flächen bewegen sich kaum oder nur wenige Zentimeter pro Jahr.

37 Gebäude bewegten sich über 200 Meter

Brienz aber rutscht besonders schnell. Einen vergleichbaren Fall gab es lediglich in den Freiburger Voralpen: 1994 schob sich eine Masse aus Schlamm, Gesteinsbrocken und Holz den Berg hinab und zerstörte die Feriensiedlung Falli-Hölli komplett. Am Ende hatten sich die 37 Gebäude der Siedlung teils über 200 Meter von ihrem ursprünglichen Standort entfernt. Falli-Hölli gilt als der «grösste Rutsch in bewohntem Gebiet in Europa». Während eines Jahres kamen insgesamt 30 Millionen Kubikmeter Material vom Berg herunter.

Seit dem Rutsch von Falli-Hölli hat sich der Klimawandel um einiges beschleunigt. Brienz könnte also der Anfang von etwas Grösserem sein.

Was droht dem Dorf? Müssen die Brienzerinnen und Brienzer gehen oder dürfen sie bleiben? Nächsten Donnerstag wissen sie mehr.

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