Manche Wahrheiten sind unerträglich. Existenziell. Manche Wahrheiten leugnet man lieber. Als Tamara (23) und Daniela Gerber (38) die Nachricht erhalten, wehren sie diese erst ab.
Ein Tag im vergangenen Oktober in einer Aargauer Kleinstadt. Auf der Krabbeldecke im Wohnzimmer spielen ihre Töchter miteinander, fassen sich mit ihren speckigen Fingerchen gegenseitig ins Gesicht, giggeln und gucken immer wieder zu ihren Müttern auf dem Sofa. Sie sind neun Monate alt. Zwillinge. Und aus einer Samenspende entstanden. Das Frauenpaar hat sich damit einen Traum erfüllt. Nun arbeitet Daniela Gerber Teilzeit im Büro eines Nagelstudios und ihre Frau Tamara schaut zu den Kleinen. Sie haben sich gut eingelebt. «Es läuft tipptopp», sagt Daniela. Ihr Glück ist ungetrübt, bis wir an jenem Tag im Wohnzimmer einen Namen erwähnen: Martin W. «Schon gehört?»
Martin W.* (45), buschige Augenbrauen, warmer Blick, ist ein Massenspender aus dem Raum Nürnberg (D). Im Netz kursiert ein hartnäckiges Gerücht: Der Mann ist chronisch krank, die Anlagen dafür kann er vererben. All das verschweigt er den Frauen und Paaren.
Daniela und Tamara Gerber haben Martin W. als Spender für ihre Kinder ausgesucht. Als wir die Vorwürfe an sie herantragen, nimmt Tamara ihre Tochter zu sich auf den Schoss, streicht ihr die feinen Härchen aus dem Gesicht, sagt: «Das muss eine Lüge sein.» Sie will Beweise sehen. Will mit den Leuten, die das behaupten, Kontakt aufnehmen. «Wie kommt ihr auf so etwas?», will sie wissen. Vor allem aber will sie Martin W. sofort anrufen.
Sie bieten ihren Samen an und wollen Sex
Es ist der Anfang einer Recherche, die uns bis nach Deutschland führt. Sie beginnt auf unregulierten Facebook-Foren, in denen Hunderte von Paaren mit Kinderwunsch auf eine Masse von fragwürdigen mittelalten Männern treffen. So sind wir auch auf das Aargauer Frauenpaar gestossen. Die Männer dort tauchen in keinem offiziellen Spenderregister auf. Sie verdienen daran. Viele wollen Sex, im Spenderjargon: Die «natürliche Methode». So auch Martin W.
In den vergangenen Monaten haben wir mit vier Paaren gesprochen, die Kinder von ihm haben. Und mit Juristinnen. Mit Medizinern. Mit Reproduktionskliniken. Und mit Martin W. Die betroffenen Paare in diesem Text haben in Wirklichkeit andere Namen, auch die Aargauerinnen. Unsere Recherche zeigt: Für manche Eltern aus dem ganzen deutschsprachigen Raum entwickelt sich der in das Internet getragene Kinderwunsch zum Albtraum.
Tamara und Daniela Gerber lernten sich auf einer Dating-App kennen. Sie fanden sofort: Das ist Liebe. Sie zogen rasch zusammen. Heirateten. Das Einzige, das noch fehlte: Kinder. Tamara sagt: «Ich wollte immer jung Mutter werden.»
Als lesbisches Paar war eine private Samenspende lange die einzige Möglichkeit. Privat heisst: selbst einen Spender finden. Erst seit 2022 haben Frauenpaare, sofern verheiratet, in der Schweiz rechtlich Zugang zu einer Samenspende über eine offizielle Kinderwunschklinik.
Ihren ersten Anlauf nahmen Gerbers 2021. Über ein Forum des Dachverbands Regenbogenfamilien fanden sie einen Mann, Schweizer, blaue Augen, dunkle Haare. Optisch passte er zu ihnen. Ein Jahr lang ejakulierte er in einen Behälter. Und Tamara führte sich den Samen mit einer Spritze ein. Vergeblich. Sie wurde nicht schwanger. Sie glaubt, dass es am Sperma lag. «Es war immer so wenig im Becher.»
Martin W. wirkte danach wie ein Glücksfall. 2022 fanden sie ihn auf einem privaten Samenspender-Forum auf Facebook. Sie wollten nicht zu einer Kinderwunschklinik, glaubten, eine Insemination koste mehrere Tausend Franken – tatsächlich wären es 1100 bis 1500 Franken. Martin W. schien ideal. 34 Kinder hat er nach eigenen Angaben in den letzten vier Jahren als Spender gezeugt. Für 500 Euro würde er auch ihnen eines machen.
Sie vertrauten ihm. Weil Martin W. Vertrauen schuf. Er zeigte ihnen Fotos von sich mit vier Kindern und einer Frau. Seine Familie, behauptete er. Wir würden das gerne überprüfen und mit der Frau auf den Bildern telefonieren, auf unsere schriftliche Anfrage diesbezüglich reagiert er allerdings nicht. Er legte den beiden auch Papiere vor, die bescheinigten, dass er keine Geschlechtskrankheit hat. Und dass sein Sperma gut ist.
All das machte Eindruck, sagt Daniela Gerber: «Der Erste, der verlässlich war.» Als ihre Frau Tamara den Eisprung hatte, stieg er sofort ins Auto und fuhr innert weniger Stunden aus Deutschland zu ihnen. Er gab seinen Samen in einen Becher, übernachtete im Gästezimmer und zog am anderen Tag ohne Nebengeräusche wieder ab. Ein ganz normaler Typ. Bis er es nicht mehr war.
Menschen und Gesellschaft
Martin W.s Geheimnis wird gelüftet
Martin W. hat ein dunkles Geheimnis. Das sickerte am 13. Februar 2023 im Internet durch. Die deutsche Mutter Nina Kruse schlug in einem Samenspender-Forum auf Facebook Alarm:
«EINE WARNUNG VOR EINEM SPENDER! WENN IHR SCHLECHTE ERFAHRUNGEN GEMACHT HABT ODER SELBST VON DEN GANZEN LÜGEN BETROFFEN SEID, MELDET EUCH BEI MIR.»
Der Spender ist Martin W. Und Nina Kruses Sohn, der von ihm stammt, hat gesundheitliche Probleme. Sie ist davon überzeugt, dass das mit W. zu tun hat. Sie ist nicht die Einzige.
Als wir Nina Kruse (Anfang 40) in einer norddeutschen Stadt am Telefon erreichen, hat sie schon einen ganzen Ordner mit Beweisen gefüllt: Arztbefunde, Chat-Protokolle von anderen Eltern, Fotos von Dokumenten von Martin W. Sie spricht schnell und gedrängt, weil das, was sie sagt, so dringlich ist: Sie stehe mit mehreren Dutzend Eltern in Kontakt, die Kinder von Martin W. haben. «Der Kerl unterschlägt allen seine Krankheiten.» Alle seien aufgebracht.
Ihr Sohn ist drei Jahre alt. Die chronischen Durchfälle kamen, als sie mit dem Stillen aufhörte und anfing, ihm feste Nahrung zu geben. Kruse brachte ihn ins Krankenhaus, reichte Stuhl- und Blutproben ein, liess eine Darmspiegelung machen, sah mit ihm ein halbes Dutzend Ärzte. Sie sagt: «Keiner kann sich erklären, warum sich unser Sohn die Seele aus dem Leib scheisst.» In einem von mehreren Befunden, die sie uns schickt, steht eine Diagnose: Entzündung des Magendarmtrakts. Ursache unbekannt.
Wir wissen von zwei weiteren Kindern von Martin W., die in Behandlung sind. Wegen chronischer Durchfälle. Oder dem Gegenteil.
Eines ist der Sohn von Mandy Meier aus Bayern (Ende 20), deren Partner keine Kinder zeugen kann. Martin W. half nach. Sie sagt: «Wir bereuen es.»
Ihr Dreijähriger könne ohne Medikamente nicht eigenständig seinen Stuhl absetzen, weil er steinhart sei. Monatelang schrie er dabei vor Schmerz. Jeden Tag mussten sie den Stuhl mit Einläufen abführen. Noch immer ernährt sich der Bub nur von Flüssigem, richtige Nahrung könne der Darm nicht zu ordentlichem Stuhl verarbeiten.
Mandy Meier sagt: «Wir haben trotzdem einen wunderschönen Jungen. Wir haben den falschen Spender, aber das richtige Kind.»
In Schweizer Kinderwunschkliniken kann nicht jeder Spender werden. Die Auflagen sind streng. Die Reproduktionsmedizinerinnen testen jeden Anwärter im Laufe eines halben Jahres mehrmals auf Infektions- oder Geschlechtskrankheiten. Checken ihn auf häufige Erbkrankheiten durch. Martin W. hätte keine Chance.
Martin W. hat einen Schwerbehindertenausweis. Er arbeitet in einer Einrichtung für Beeinträchtigte, repariert dort Autos in der Kfz-Werkstatt.
Martin W. leidet unter Epilepsie und einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, Colitis ulcerosa. Er bestätigt auf Anfrage, dass er als Bub daran erkrankt war.
Die Symptome von Colitis ulcerosa sind laut dem Universitätsspital Zürich: Durchfälle, die oft blutig und schleimig sind, Bauchschmerzen, häufiger Stuhldrang und das Gefühl, sich sehr dringend bis unkontrolliert entleeren zu müssen. Oder das Gegenteil: Verstopfung.
Carsten Posovszky, Abteilungsleiter Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung am Universitäts-Kinderspital Zürich, sagt zu Epilepsie und Colitis ulcerosa: «Für beide Erkrankungen gibt es genetische Prädispositionen, also auch familiäre Häufungen.» Es spielten äussere Einflüsse wie Stress, Umwelt, Infektionen eine Rolle, ob die Krankheiten ausbrechen.
Für Reproduktionsmediziner ist das entscheidend. Peter Fehr von der Zürcher Klinik OVA IVF sagt, selbst mit nur einer der Erkrankungen würde seine Klinik jemanden bereits nicht ins Spender-Programm aufnehmen. «In der Kombination von beiden Erkrankungen ist es auf jeden Fall ausgeschlossen.»
Ihre Kinder sind bis jetzt gesund
Tamara und Daniela Gerber aus dem Aargau hatten bis jetzt Glück. Ihre Mädchen sind gesundheitlich nicht auffällig.
An einem Dezembernachmittag sitzen wir wieder in ihrem Wohnzimmer. Im Grossbildfernseher läuft ein Trickfilm, am Christbaum baumeln rote Kugeln. Eines der Mädchen steuert auf den Adventskalender in der Küche zu, am Tag zuvor hat sie ein Zahntruckli aus einem der Stoffsäckchen gezogen, sie hat zwei Zähne. Beide krabbeln neuerdings. Alles normal.
Nach unserem letzten Besuch waren die Mütter verunsichert. Sie fragten sich: Was, wenn die Kinder krank sind? Was, wenn nur eines betroffen ist? Sie gingen mit den Kleinen zum Arzt, der beruhigte sie, da war nichts. Dann fielen ihnen plötzlich wieder Martin W.s schräge Aktionen ein, die sie vor lauter Babyglück verdrängt hatten. Tamara Gerber sagt: «Die Probleme mit Martin fingen an, als ich schwanger wurde.»
W. wollte Fotos von ihr. Jeden Monat habe er «gestürmt»: Bitte Bild mit viel Babybauch. Sie sagt: «Ich fand es cringe.» So wie seine Komplimente. Sie sei sehr schön, schrieb er. Fragte, ob sie und ihre Frau eine offene Beziehung hätten. Schon früher, direkt nach der Becherspende, fragte er, ob sie zusätzlich die «natürliche Methode» wolle. Sex. Auch bei anderen Frauen tat er das, wie Chat-Auszüge belegen. Martin W. bestreitet das.
Tamara wehrte sich gegen die Anmache. Es gab Streit. W. drohte: Die Kinder dürften ihn als Erwachsene nicht kennenlernen. Abgemacht war das Gegenteil. Danach herrschte Funkstille. Bis die Mädchen auf der Welt waren und die Mütter ihm Bescheid gaben.
Härter traf es mutmasslich das Paar aus Bayern. Martin W. habe ihre Facebook-Freunde angeschrieben und gesagt, dass ihr Sohn aus einer Spende entstanden sei, sagt Mandy Meier. «Nicht mal meine Schwester wusste das.» Dies soll geschehen sein, weil ihm das Paar die zweite Tranche der Zahlung erst nach den ersten drei Schwangerschaftsmonaten überweisen wollte. W. sei noch weiter gegangen, sagt sie. Mündlich hätten sie vereinbart, dass er auf die Vaterschaft verzichte. Nun habe er damit gedroht, diese anzuerkennen und ihnen das Kind wegzunehmen. Martin W. streitet das ab.
Eltern gehen mit einer privaten Samenspende ein Risiko ein. Im Schweizer Recht ist diese nicht geregelt. Die Rechtsanwältin Karin Hochl ist auf die Gebiete gleichgeschlechtliche Paare, alternative Familien und Fortpflanzungsmedizin spezialisiert. Sie sagt: «Nach Gesetz wäre der Spender der rechtliche Vater.» Die Behörden erwarteten, dass er die Vaterschaft anerkenne. Vereinbarungen, die der Spender und die Eltern abschlössen, seien im Konfliktfall schwierig durchsetzbar. So auch im deutschen Recht. Bei einer Samenspende über eine Schweizer Kinderwunschklinik hingegen ist eine Vaterschaft des Spenders von Anfang an ausgeschlossen.
Martin W. rechtfertigt sich
Nach Monaten der Recherche wollten wir von Martin W. Antworten. Was sagt er dazu, dass sich Eltern von ihm betrogen fühlen? Wie erklärt er sich? So viel vorab: Er versteht ihre Wut nicht.
Er sei ein verantwortungsvoller Mensch, sagt er hastig am Telefon. «Wenn ich Erbkrankheiten hätte, hätte ich nicht gespendet.» Die Colitis ulcerosa und die Epilepsie habe er nicht mehr. Seine Erklärung geht so:
Noch zu DDR-Zeiten, als er ein Bub war, hätten Ärzte bei einer Mandeloperation bei ihm einen Nerv verletzt. Das habe die Epilepsie ausgelöst. Wegen der Medikamente gegen die Epilepsie brach wiederum die Colitis ulcerosa aus. Er habe dann eine Ausreiseerlaubnis für Westdeutschland erhalten. Im Berliner Krankenhaus Charité hätten die Ärzte alle Medikamente abgesetzt. «Damit verschwanden die Epilepsie und die Colitis», sagt er.
Den Schwerbehindertenausweis habe er, zurück in der DDR, wegen des damaligen Aufenthalts in Westdeutschland erhalten. Aus politischen Gründen. Den Ausweis habe er nicht mehr abgegeben, weil er sonst seine Erwerbsminderungsrente verliere.
MediaSlot: ImageContainer #inline_Image_7890742127704417891Egal was Martin W. sagt: Epilepsie und Colitis ulcerosa sind unheilbar. Carsten Posovszky vom Universitäts-Kinderspital Zürich sagt: «Es sind chronische Erkrankungen.» Aber gut behandelbar. Die Colitis ulcerosa könne schubhaft verlaufen, dazwischen habe man keine Symptome.
All das bringt den Eltern juristisch nichts. Sie müssten vor Gericht beweisen, dass Martin W. sie absichtlich getäuscht hat. So will es das deutsche Strafrecht. In der Schweiz sieht die Rechtsanwältin Karin Hochl aus dem gleichen Grund ebenfalls «keine Handhabung, gegen den Spender vorzugehen».
Den Eltern bleibt nur eines: andere mit Kinderwunsch warnen. Sie können von Anfang an zu einer Kinderwunschklinik gehen.
* Name bekannt