Auf einen Blick
Er streckt die Hände an die Deckenbalken und tastet sich so von Raum zu Raum in seinem alten Appenzeller Bauernhaus. «Ich kenne hier jedes Brett, ich habe das meiste selbst renoviert und umgebaut», sagt Theo Frey. Das – und dass er als Ex-Pilot von Kleinflugzeugen Erfahrung im Blindflug hat – hilft ihm. Seine Frau Martha achtet darauf, dass die Möbel immer am selben Ort stehen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Theo Freys Pupillen sind starr, seit er Ende 2022 erblindet ist – von einem Tag auf den anderen, ohne irgendwelche Vorzeichen. Am Vortag hatte der 69-Jährige in einem Nebengebäude noch eine neue Tür eingebaut und war mit dem Hund spazieren gegangen. Danach legte er sich ins Bett. Als er am Morgen aufwachte, war da nur noch ein dunkles Loch.
Eine rätselhafte Krankheit
Ein Schock. Freys Hausarzt meinte, so etwas sei ihm in 40 Jahren nicht vorgekommen. Er überwies ihn als Notfall in die Neurologie des Kantonsspitals St. Gallen. Dort wurde eine Magnetresonanztomografie gemacht – mit unauffälligem Befund. Die Blutuntersuchung führte dann zur Diagnose Mogad. Eine seltene Autoimmunerkrankung, die das Zentralnervensystem betrifft.
Mogad ist erst seit 2018 als eigene Krankheit registriert, noch gibt es viel Unbekanntes. Nicht alle Mogad-Patientinnen und -Patienten erblinden. Es können Schübe mit Sehstörungen, Lähmungen oder Gleichgewichtsproblemen vorkommen, auch Beeinträchtigungen der Harnblase oder der Darmentleerung.
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Schweizweit gibt es keine Daten zu Mogad; in St. Gallen werden ein bis zwei Fälle pro Jahr diagnostiziert. Bei der Behandlung solch seltener und grossteils noch ungeklärter Krankheiten sei man wohl ein Stück weit Versuchskaninchen, sagt Theo Frey – so hat es sich für ihn jedenfalls angefühlt.
Er bekam anfänglich hohe Kortison-Dosen, dann wurde ihm stationär während acht Tagen das Blut ausgetauscht. Und später ein neuartiges Medikament gegen die Auto-Antikörper gespritzt. «Ich muss darauf vertrauen, dass die Ärzte in meinem Fall das Richtige getan haben», sagt Frey.
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Das Kantonsspital St. Gallen hält fest, dem Patienten sei nicht etwa eine experimentelle, sondern die bei einem solchen Krankheitsbild gängige Behandlung verordnet worden. «Ziel dieser Therapie ist es, das Immunsystem zu drosseln und die Auto-Antikörper aus dem Blut zu entfernen.»
Theo Frey sucht andere Betroffene
Theo Frey, ein ehemaliger Programmierer, will möglichst selbstbestimmt bleiben. Darum spricht er an, was ihn in der Zeit im Spital störte. Etwa die nicht behindertengerechte Einrichtung: «Ich hatte in der ‹Holzklasse› kein WC im Zimmer, und auf dem Gang bin ich ständig gegen irgendwelche Hindernisse gelaufen.» Fatal in seiner Situation. Dazu das Spital: «Nicht alle Zimmer verfügen über eine Nasszelle. Der Patient konnte jederzeit nach der Pflege läuten.»
Frey wollte auch alles über seine Behandlung wissen. Er liess nicht locker, bis ihm das Spital alle medizinischen Berichte herausrückte. Ihn irritierte auch ein vergleichbarer Fall zur selben Zeit im selben Spital, auf den er zufällig stiess. Wie er war dieser Mann ohne Vorzeichen von einem Tag auf den anderen erblindet. Bei ihm wurde aber eine andere seltene Autoimmunerkrankung diagnostiziert.
Die beiden trafen sich später und tauschten sich aus. Auch darüber, dass das Spitalpersonal zu viel administrieren müsse und zu wenig Zeit für die Pflege habe. Von der Publikation seines Falles erhofft sich Frey, sich mit anderen plötzlich Erblindeten zu vernetzen.
Die Erkrankung hat das Leben des Pensionärs auf den Kopf gestellt. Mitleid will er nicht – das entspricht nicht dem Naturell von Theo Frey. Vielmehr treibt ihn die Hoffnung an: «Die Medizin macht Fortschritte», sagt er. Vielleicht liessen sich zerstörte Sehnerven wiederherstellen, irgendwann, irgendwie. Im Traum könne er jedenfalls schon wieder sehen – «und erst noch in Farbe».
Weniger Freunde
Den Alltag packt Frey pragmatisch an. Unterdessen nützt er ein Computerprogramm, das ihm Texte, E-Mails und Whatsapp-Nachrichten vorliest. Das Schreiben auf der Blinden-Tastatur hat er sich selbst beigebracht. Beim Essen sagt ihm seine Frau Martha, was wo auf dem Teller liegt – das Fleisch auf zwölf Uhr, das Gemüse auf vier.
Am meisten belastet Frey die eingeschränkte Mobilität. «Ich bin auf Hilfe angewiesen – bei vielen alltäglichen Dingen.» Die Freunde sind weniger geworden. Ein solcher Einschnitt trenne die Spreu vom Weizen, meint er lakonisch. Nicht verloren hat er ob alldem seinen Schalk. Auf die Frage, ob er für diesen Bericht mit einem Foto einverstanden sei, lacht er: «Warum nicht? Ich kann es ja eh nicht sehen.»