«Es würgt mich nur schon, wenn ich sein Bild sehe»
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Aktivistin zu Andrew Tate:«Es würgt mich nur schon, wenn ich sein Bild sehe»

Statistiken und Experte zeigen
Deshalb werden junge Frauen immer linker

Auf der ganzen Welt driften junge Männer und Frauen politisch auseinander, auch in der Schweiz. Wieso passiert das – und was sind die Folgen?
Publiziert: 16.04.2024 um 00:22 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2024 um 12:02 Uhr
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Soziologe Ganga Jey Aratnam nennt den Geschlechtergraben «einen der tiefgreifendsten Gräben in unserer Gesellschaft».
Foto: Thomas Meier
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Stellen Sie sich eine Welt vor, in der sich Männer und Frauen immer stärker entfremden, sich weniger und weniger als Liebespaare finden. In der Folge gibt es keine Kinder mehr, und die Menschheit stirbt aus.

Was klingt wie der Plot eines dystopischen Science-Fiction-Films, ist auf den zweiten Blick gar nicht so realitätsfern.

Ein Geschlechtergraben zieht sich durch die Welt – und teilt insbesondere junge Menschen in zunehmend unversöhnliche Blöcke.

Der Soziologe Ganga Jey Aratnam (51) forscht seit längerem zu den auseinanderdriftenden Geschlechtern. Er sagt: «Insgesamt ist der Geschlechtergraben einer der tiefgreifendsten Gräben in unserer Gesellschaft – auf der ganzen Welt werden junge Frauen immer linker, junge Männer rechter. Diese Entwicklung muss auch in der Schweiz dringend von der Politik als fundamentales Problem erkannt werden.»

Lange galt in der Meinungsforschung: Jede neue Generation zieht politisch in eine Richtung – und verändert damit die Gesellschaft. Die Jungen von heute ziehen aber in entgegengesetzte Richtungen.

Alice Evans von der US-Universität Stanford ist eine der führenden Forscherinnen in diesem Bereich. Sie sagte in der «Financial Times», die Generation Z bestehe eigentlich aus zwei Generationen: der männlichen und der weiblichen.

Einige statistische Beispiele: In den USA bezeichnen sich gemäss einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup 40 Prozent der jungen Frauen zwischen 18 und 29 als links, bei den Männern sind es nur 25 Prozent. Noch vor zehn Jahren waren die Werte der Frauen auf dem Level der Männer. Ähnliches lässt sich in Deutschland, China, Polen, Grossbritannien, Südkorea beobachten.

So sieht es in der Schweiz aus

In der Schweiz ist die Datenlage nicht sehr umfassend. Doch die vorhandenen Statistiken zeigen auch hier eine klare Tendenz: Junge Frauen driften hart nach links, junge Männer nach rechts. Nach wie vor gebe es natürlich auch «linke Männer und rechte Frauen», wie Jey Aratnam sagt.

Eine Auswertung des Meinungsforschungsinstituts Sotomo des Abstimmungsverhaltens seit 1988 zeigt: In den vergangenen zehn Jahren ging eine Schere auf. Der Anteil der 18- bis 29-jährigen Frauen, die sich links der Mitte sehen, kletterte von 35 Prozent auf 52 Prozent, während bei gleichaltrigen Männern der Anteil rechts der Mitte von 29 Prozent auf 43 Prozent wuchs. Die «NZZ am Sonntag» berichtete als Erstes darüber.

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Ein trennendes Element bei den Geschlechtern ist das Thema … Gender. Zu diesem Schluss kommen die Autorinnen und Autoren des Meinungsforschungsinstituts Sotomo in der Studie Geschlechtergerechter aus dem Jahr 2021. Sie schreiben: «Die Vorstellungen zu Geschlechtsidentitäten gehen bei jüngeren Menschen viel stärker auseinander als bei älteren.» Diese Vorstellungen prägen die politische Positionierung mit.

Wir haben mit vier jungen Menschen geredet, die für diese Entwicklung stehen. Yasmina Mark (20) sagt: «Mit einem rechten Mann befreundet oder in einer Beziehung zu sein, könnte ich, glaube ich, nicht. Junge rechte Männer sind nicht nur einfach anderer Meinung, sondern sie positionieren sich damit auch gegen mich und mein Leben.»

Diego Imhof (20) sagt: «Mittlerweile soll für jeden, der sich ein wenig anders fühlt, etwas Neues eingeführt werden. Schlussendlich stimmt das die Leute eher negativ als positiv.»

Was hat sich im Vergleich zu vorhergehenden Generationen verändert?

«Die Männer sind weniger hoch gebildet»

Trotz gesetzlich vorgeschriebener Gleichstellung und massiver Verbesserungen in vielen Bereichen seien Frauen noch immer benachteiligt, sagt Soziologe Ganga Jey Aratnam. «Die Männer sind weniger hoch gebildet, haben aber politisch und ökonomisch noch immer Macht. Frauen verdienen weniger und leisten noch immer den grossen Anteil der Betreuungs- und Hausarbeit. Mütter wenden 44 Stunden dafür auf, Väter dagegen nur 24 Stunden. Kein Wunder, sind sie wütend.»

Junge Frauen seien heute nicht mehr bereit, solche Ungleichheiten zu akzeptieren – und verträten ihre Haltung kompromisslos, vermutet Jey Aratnam weiter. Er bringt ein Beispiel aus einem Workshop, den er mit 16-Jährigen durchführte. Auf seine Frage, wieso Männer statistisch gesehen früher sterben als Frauen, antwortete ein Junge: weil Männer mehr arbeiten. Jey Aratnam: «Die Mädchen in der Klasse buhten ihn unisono aus.»

Die Unzufriedenheit äussert sich in einer zunehmend sinkenden Toleranz gegenüber anderen Meinungen. «Es gibt eine starke Labeling-Tendenz: Ein bestimmtes Verhalten von Männern gilt heute schnell als Mansplaining, Manterrupting, Bropriating, Gaslighting oder schlicht toxische Männlichkeit. Solche Zuschreibungen können bei Männern Abwehrreflexe und Gegenreaktionen verstärken, statt ihre Reflexion und Fortentwicklung zu fördern.»

Die Aggressivität steige – auf beiden Seiten: Junge Männer fühlen sich unter Druck. Die Statistik gibt ihnen recht. In der Maturaquote hinken Männer immer stärker hinterher. 2021 machten 49,2 Prozent aller Frauen in der Schweiz eine Matura – bei den Männern lag die Quote bei 36,5 Prozent. In vielen handwerklichen Berufen stagniert der Lohn, während in eher weiblich dominierten Berufen wie der Pflege die Besoldung steigt.

Jey Aratnam sagt: «Männer werden zum schwachen Geschlecht. Die alten Privilegien verschwinden, neue Erwartungen kommen hinzu, doch die Rechte hinken hinterher.» Ein Beispiel: Väter sollen sich viel stärker engagieren, der Vaterschaftsurlaub aber ist gesetzlich bei nur zwei Wochen fixiert. Dafür müssen Männer ins Militär, Frauen nach wie vor nicht. In der Folge gelten bei jungen Männern zunehmend Figuren als Helden, die für eine traditionelle Form der Männlichkeit stehen: Andrew Tate und Farid Bang.

Jey Aratnam fasst zusammen: «Frauen haben ihre Aufgaben gemacht und sich vieles erkämpft, die Männer aber können die Entwicklung nicht mehr nachvollziehen.» Das hält er für gefährlich.

Mehr Männer an den Herd

«Die Gleichstellung kann nur funktionieren, wenn junge Männer mitziehen. Dafür wird in der Schweiz viel zu wenig getan», sagt Jey Aratnam. «Männerarbeit in der Schweiz fusst fast ausschliesslich auf Täterarbeit.» Das müsse sich dringend ändern. «Es braucht eine Eidgenössische Kommission für Männerfragen, analog zu den Frauen.»

Die Folgen des Auseinanderdriftens seien frappant, so Jey Aratnam. 62,4 Prozent der Männer zwischen 18 und 24 sind gemäss Bundesamt für Statistik Single – viele von ihnen unfreiwillig. Letzte Woche gab das Bundesamt für Statistik bekannt, dass die Geburtenrate in der Schweiz auf ein Allzeittief gefallen ist: 1,33 Kinder pro Frau. Ist der wachsende Graben zwischen den Geschlechtern die einzige Erklärung dafür? Nein. Hat es damit nichts zu tun?

«Schwer vorstellbar», entgegnet Soziologe Ganga Jey Aratnam. «In einem Paarhaushalt ohne Kinder arbeiten 63 Prozent der Frauen Vollzeit. Bei Frauen, die Kinder haben, beträgt dieser Vollzeit-Anteil weniger als 20 Prozent, bis die Kinder erwachsen sind. Wir brauchen also dringend mehr Geschlechtergerechtigkeit: mehr Männer, die Teilzeit arbeiten und sich mehr um Heim und Herd kümmern.»

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