Auf einen Blick
- Individualbesteuerung sei ein Bürokratiemonster, warnen Gegner
- Bis zu 1600 neue Beamte müssten laut Kritikern angestellt werden
- Befürworter halten Zahlen für übertrieben und setzen auf Automatisierung
Bürokratie-Monster! Beamten-Ausbau! Nur wenige Themen polarisieren im Bundeshaus so stark: Künftig sollen alle eine eigene Steuererklärung ausfüllen – auch Verheiratete. Doch die Individualbesteuerung, mit der die sogenannte Heiratsstrafe endlich abgeschafft werden soll, ist höchst umstritten.
Die Mehrheiten sind wackelig. Nur knapp nahm der Nationalrat im Herbst die Vorlage dazu an. Noch mehr Widerstand droht im Ständerat, wo die Einwände der Kantone ein höheres Gewicht haben. Denn auch sie müssten die Individualsteuer einführen.
Kritiker malen ein düsteres Bild, die Bürgerlichen sind zerstritten. SVP-Präsident Marcel Dettling wetterte kürzlich gegenüber Blick: «Die FDP will die Individualbesteuerung, was eine Riesen-Bürokratie nach sich ziehen würde.» Und bei der ansonsten betont gemässigten Mitte-Partei ist schlicht von einem Bürokratie-Monster die Rede.
1,7 Millionen neue Steuererklärungen
Tatsächlich sollen auf die Kantone bis zu 1,7 Millionen neue Steuererklärungen zukommen. Deswegen müssten massiv mehr Beamtenjobs geschaffen werden, befürchten Gegner.
Es werden schwindelerregende Zahlen verbreitet – etwa von SVP-Nationalrat Paolo Pamini (47). Der Steuerexperte warnt: Um die zusätzlichen Steuererklärungen zu kontrollieren, seien 1000 bis 1600 neue Beamte nötig! Die Zahlen, die Pamini in der Ratsdebatte im Herbst nannte, prägen seither die Diskussion.
Ebenso gerne wird Zürich als Beispiel genannt. Der grösste Kanton unterstützt die Individualbesteuerung – obwohl dafür laut Behördenangaben bis zu 150 neue Stellen geschaffen werden müssten. Hochgerechnet aufs ganze Land wären dies immerhin 850 zusätzliche Beamte.
Und die Alarmglocken schrillen auch anderswo. Schwyz befürchtet einen «massgebenden Mehraufwand», Zug gar eine «unverhältnismässige Aufblähung der Administration».
Ärger über «konservativen Geist»
Doch wie stichhaltig sind diese Befürchtungen? FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher (57), eine der Urheberinnen der Initiative zur Individualbesteuerung, widerspricht vehement: «Die Bürokratie-Warnungen sind schlicht an den Haaren herbeigezogen.»
Besonders ärgert sich die St. Gallerin über den «konservativen Geist», mit dem SVP und Mitte die Individualbesteuerung bekämpften. «Sie ignorieren völlig, dass die Bearbeitung von Steuererklärungen dank der Digitalisierung immer einfacher wird.»
Das Veranlagungsverfahren sei ein Massengeschäft, das einen hohen Automatisierungsgrad erlaube. Vincenz-Stauffacher ist überzeugt: «Die zusätzlichen Steuerdossiers können in Zukunft effizient bearbeitet werden. Technisch haben wir heute viel schwierigere Aufgaben zu lösen.»
In der Praxis tut sich einiges: So hat der Kanton Solothurn angekündigt, dass der Einsatz von künstlicher Intelligenz künftig vollautomatische Veranlagungen ermöglichen soll.
Nur in der Theorie ein Problem?
Offen bleibt, wie die Schätzungen zum Beamten-Wachstum zustande kommen. Die Kantone halten ihre Berechnungen meist unter Verschluss. Gar nicht auf die Äste hinauslassen will sich die Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren. Man verfüge selbst «nicht über eine Schätzung der personellen Auswirkung», so Generalsekretär Peter Mischler (46).
Laut gut informierten Kreisen wird in den Kantonen oft auf jahrzehntealte Faustregeln abgestützt: Ein Beamter kann sich um 2000 einfache Steuererklärungen kümmern, bei komplexeren Dossiers sind es rund 1100 pro Beamten. «Die grossen Fortschritte bei der Automatisierung werden dabei praktisch ausgeblendet», sagt ein Insider.
Offener zeigt man sich beim Kanton Zürich. Reto Flury, Sprecher von Finanzdirektor Ernst Stocker (69), bestätigt zwar die Rechnung: «Ohne Automatisierung wären für die gut 300’000 zusätzlichen Steuerverfahren im Kanton Zürich theoretisch rund 150 Stellen erforderlich.» Die Betonung legt er aber auf «theoretisch».
Denn die Auswirkungen auf das Personal seien vor allem davon abhängig, inwieweit eine Automatisierung möglich sei. Wenn ein erheblicher Teil der Veranlagungen automatisiert werde, sehe die Sache ganz anders aus.
Klar ist: Mit exakten Zahlen können weder Gegner noch Befürworter punkten. Klar ist aber auch: Die Angaben zu den benötigten Jobs sind in der Regel nicht mehr als grobe Schätzungen.
Der Ständerat wird voraussichtlich im Frühjahr über die Individualbesteuerung entscheiden. Derzeit befasst sich seine vorberatende Kommission damit.