Herr Brülhart, Finanzplatz – und Finanzminister – versprechen sich durch die Abschaffung der Verrechnungssteuer eine so starke Belebung der Geschäftstätigkeit, dass die Staatskasse mit mehr Steuereinnahmen rechnen kann. Ist das realistisch?
Marius Brülhart: Das ist eine ziemlich steile These. Die Studie, auf die sich diese Verheissung stützt, basiert auf Expertengesprächen und subjektiven Einschätzungen. Sie geht einfach von einer gewissen Ankurbelung des Brutto-Inland-Produkts aus – ohne transparent zu belegen, wieso gerade eine Abschaffung der Verrechnungssteuer das Geschäft so stark stimulieren würde.
Möglich ist es aber schon?
Theoretisch ist das möglich, klar. Aber in der Regel führen tiefere Steuern halt schon zu tieferen Steuereinnahmen. Die Analyse der Befürworter steht auf wackligen Beinen. Zum Beispiel gehen sie davon aus, dass die Schweiz die Hälfte dieser Art Anlagen aus Luxemburg anziehen kann. Warum die Hälfte? Warum nicht alles oder nur 10 Prozent? So bleiben die Befürworter einen schlüssigen Beleg schuldig, dass diese Abschaffung die Wirtschaft dermassen ankurbeln würde, dass die Steuerausfälle wettgemacht werden könnten. Wir haben einen Vergleichspunkt: die Abschaffung der Emissionsabgabe auf Obligationen 2012. Auch damals hiess es, dass das den Kapitalmarkt «zweifellos beleben» und so zusätzliche Gewinn- und Einkommenssteuern generieren würde.
Marius Brülhart (54) ist ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lausanne. Seine Spezialgebiete sind Staatsfinanzen, Volkswirtschaft und internationaler Handel. Brülhart ist Co-Direktor des Zentrums für Steuerpolitik der Uni Lausanne und leitet das Projekt «Steuerwettbewerb und Steuerausgleich» beim Schweizerischen Nationalfonds.
Marius Brülhart (54) ist ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lausanne. Seine Spezialgebiete sind Staatsfinanzen, Volkswirtschaft und internationaler Handel. Brülhart ist Co-Direktor des Zentrums für Steuerpolitik der Uni Lausanne und leitet das Projekt «Steuerwettbewerb und Steuerausgleich» beim Schweizerischen Nationalfonds.
Und passiert ist das Gegenteil?
Genau. Das Emissionsvolumen ist um 18 Prozent gesunken. Was auch an anderen Faktoren liegen kann – aber das müsste man eben sorgfältig untersuchen.
Aber logisch ist es schon: Fällt eine Steuer weg, steigt die Attraktivität des Produkts.
Klar. Aber so könnte man auch sagen: Senken wir die Mehrwertsteuer auf Joghurt, denn das belebt das Joghurt-Geschäft! Die entscheidende Frage ist immer: Wie gross ist das Ausmass solcher Effekte? Und das wurde im Fall der Verrechnungssteuer bisher nicht seriös beantwortet.
Die Befürworter sagen auch, eine Abschaffung lohne sich, weil es so kostengünstiger wird, über Obligationen Fremdkapital aufzunehmen. Können Sie das erklären?
Die Logik ist die folgende: Weil Schweizer Obligationen attraktiver werden, steigt die Nachfrage und damit auch der Preis. Ausländische Anleger sind bereit, mehr zu zahlen. Und damit wird die Kreditaufnahme für die Schuldner günstiger. Alles richtig – aber auch hier geht es um das Ausmass des Effekts, und dazu gibt es keine Schätzungen. Die Aussage, dass bis zu 200 Millionen Zinskosten gespart werden können, ist ein Szenario, nicht mehr. Da würde ich mir schon etwas mehr Sorgfalt wünschen.
Das heisst: Die Befürworter argumentieren mit Spekulationen, weil sie keine besseren Argumente haben?
Der Verdacht steht zumindest im Raum. Wer die Verrechnungssteuer abschaffen will, sollte besser abgestützte Argumente haben. Umso mehr, weil es sich bei der Verrechnungssteuer auf Obligationen aus Schweizer Sicht um eine attraktive Steuer handelt – sie wird nämlich fast ausschliesslich von ausländischen Anlegern berappt und nicht von Schweizern.
Die linken Gegner warnen angesichts der steigenden Zinsen vor 800 Millionen Franken Mindereinnahmen bei den Steuern. Ist das besser kalkuliert?
Nein, das scheint mir ebenfalls überzogen. Diese Schätzung geht von einem Zinsniveau von 4 Prozent aus. Auch das ist nicht ausgeschlossen, aber es gibt derzeit niemanden, der ein solches Zinsniveau voraussagt. Zudem: Wo die Befürworter die dynamischen Effekte überstrapazieren, ignoriert diese Schätzung der Gegner solche komplett. Eine Annahme der Vorlage dürfte durchaus neue, gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen und dadurch auch zusätzliche Einkommensteuereinnahmen. Die Gretchenfrage ist, wie viel? Wird es ausreichen, um die Ausfälle wettzumachen?
Die Linke sagt auch, dass die Schweiz mit der Abschaffung neue Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung schafft. Stimmt das?
Es wird in der Tat attraktiver werden, Obligationenvermögen nicht anzugeben – und so Steuern zu hinterziehen. Deshalb wollte der Bundesrat die Steuerehrlichkeit ja mit einer Meldepflicht sicherstellen. Das hat das Parlament gekippt. Aber auch hier: Wie gross dieser Effekt sein wird, ist nicht klar. Und diese Mindereinnahmen fliessen in die Rechnungen der Befürworter übrigens auch nicht ein.