Es war still vor den Feiertagen. Aussenminister Ignazio Cassis (62) publizierte vor Weihnachten die Resultate der Sondierungsgespräche des Bundesrates mit Brüssel. Er umriss, wo man sich weitgehend geeinigt hat und wo die offenen Streitpunkte sind. Über diese will er im Frühjahr mit der EU-Kommission verhandeln. Die zuständige Parlamentskommission berät in Bern nun die Leitplanken.
Erreicht hat Cassis einiges. Lobende Kommentare erschienen kurz nach seinem Auftritt, darunter von den Wirtschaftsdachverbänden Economiesuisse, dem Arbeitgeberverband und Gewerbeverband. Kritische inhaltliche Voten gab es weniger, und wenn, dann von den üblichen Verdächtigen mit erwartbarer Kritik.
Beissende Kritik am Verhandlungsergebnis
Doch jetzt dreht sich der Wind. Die Gegnerschaft hat sich organisiert. Fast täglich erscheinen neue kritische Voten in den Medien.
Als Erstes äusserte sich die Wirtschafts-Gruppierung Kompass Europa in einem Artikel im Sonntagsblick. Sie arbeitet an einer Volksinitiative, die einen Ausbau der bilateralen Verträge mit der EU verhindern will. Dahinter stecken die Gründer der Firma Partners Group: Alfred Gantner (55), Urs Wietlisbach (63) und Marcel Erni (58). Sie hatten vor drei Jahren zusammen 1,5 Millionen Franken in die Organisation gesteckt.
Die «Handelszeitung» sprach ausführlich mit dem Geschäftsführer von Kompass Europa, Philip Erzinger. Er bezieht sich auf das vom Bundesrat publizierte Papier, das den Stand der Sondierungsgespräche zwischen Bern und Brüssel wiedergibt. Es ist dies das sogenannte «Common Understanding» und existiert vorerst nur in englischer Sprache.
Erzinger sagt, das vom Bundesrat Erreichte sei «eine herbe Enttäuschung». Das gescheiterte Rahmenabkommen von 2021 werde lediglich «aufgebrüht». In einzelnen Teilen sei es sogar ein Rückschritt. Er kritisiert drei Kernpunkte.
Wird die Wirtschaftsfreiheit der Schweiz geopfert?
Erstens: Die dynamische Rechtsübernahme von EU-Recht durch die Schweiz sei zu umfangreich und sie stehe als «unumstössliche Doktrin» über allem. Er spricht von «Binnenmarktfesseln». Diese schädigten die schweizerische Wirtschaftsfreiheit. Die Zahl der verhandelten Ausnahmen – was Cassis als Vorteil der neuen Vereinbarung anführt – sei klein und nur dort sichtbar, wo Gewerkschaften auf Ausnahmen gedrängt hätten.
«Nur dort hat der Bundesrat Verhandlungskraft investiert», sagt Erzinger. Kompass/Europa akzeptiere die dynamische Übernahme von EU-Recht nur, «wo es Sinn für die Schweiz macht». Als Beispiel nennt er den Luftverkehr, Strom und das Schengen-Dossier (Grenzkontrollen), nicht aber die Binnenmarktregeln.
«Wir staunen»
Zweitens: Das Verständigungspapier des Bundesrates beschreibt die Möglichkeit der EU zu Retorsionsmassnahmen in sektorfremden Bereichen, sollte die Schweiz EU-Recht nicht übernehmen. Im «Common Understanding» steht, dass diese «in jedem anderen Abkommen» möglich seien. Wenn die Schweiz X nicht übernimmt, kann die EU Strafmassnahmen im Bereich Y verhängen.
Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.
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«Wir staunen, dass der Bundesrat so etwas als ‹gemeinsame Verständigung› zulassen konnte», sagt Erzinger. Damit werde die «Politik der gezielten Nadelstiche» der EU gegenüber der Schweiz offiziell autorisiert. In der Vergangenheit piesackte die EU die Schweiz sachfremd etwa bei Zollkontrollen, der Börsenzulassung und im Forschungsprogramm.
Daraus schliesst Erzinger, dass die EU-Kommission die klare Absicht habe, die Schweiz der EU mit einem solchen neuen Binnenmarktvertrag unterzuordnen. «So eine Klausel dürfen wir schlichtweg nicht zulassen», sagt er, «die Schweiz wäre geknebelt».
Fehlendes verbindliches Mitspracherecht
Drittens sieht Erzinger weitere grobe Mängel beim Mitspracherecht der Schweiz in der EU. «Die vorerst vereinbarten Regeln zur Mitsprache sind extrem schwammig und unverbindlich. Die Schweiz könnte in keiner Weise in Brüssel mitreden, wenn es um neue EU-Erlasse geht, die die Schweiz betreffen», sagt Erzinger. Der Ansprechpartner der Schweiz wäre nicht die Kommission, sondern subalterne EU-Beamte, sogenannte hohe Repräsentanten, so steht es im Verständigungspapier. Das sei ein Indiz dafür, dass die EU die Schweiz nicht ernst nehme.
Bis Ende Januar beraten die aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments das Vorverhandlungsresultat und das Verhandlungsmandat. Sie haben ein Mitspracherecht. Sie bestätigen, korrigieren oder lehnen das Verhandlungsmandat des Bundesrates ab.
Am 2. Februar werden die Kantone beschliessen, ob sie mit dem Verhandlungsmandat einverstanden sind. Auch sie haben ein verfassungsmässiges Mitspracherecht und sind sogar in Brüssel mit einer eigenen Mission vertreten.
Danach beschliesst der Bundesrat, ob er gemäss Auftrag des Parlaments in die Verhandlungen mit der EU einsteigen kann.
Das Resultat wird bis Herbst 2024 erwartet. Eine Unterzeichnung dürfte nicht vor Anfang des nächsten Jahres erwartet werden. Eine Volksabstimmung dürfte nicht vor 2026 stattfinden.
Bis Ende Januar beraten die aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments das Vorverhandlungsresultat und das Verhandlungsmandat. Sie haben ein Mitspracherecht. Sie bestätigen, korrigieren oder lehnen das Verhandlungsmandat des Bundesrates ab.
Am 2. Februar werden die Kantone beschliessen, ob sie mit dem Verhandlungsmandat einverstanden sind. Auch sie haben ein verfassungsmässiges Mitspracherecht und sind sogar in Brüssel mit einer eigenen Mission vertreten.
Danach beschliesst der Bundesrat, ob er gemäss Auftrag des Parlaments in die Verhandlungen mit der EU einsteigen kann.
Das Resultat wird bis Herbst 2024 erwartet. Eine Unterzeichnung dürfte nicht vor Anfang des nächsten Jahres erwartet werden. Eine Volksabstimmung dürfte nicht vor 2026 stattfinden.
Die Schweiz aber müsse ihre fundamentalen Standortvorteile wahren. Der wichtigste Vorteil sei, die Kompetenz zu bewahren, über eigene Gesetze direktdemokratisch zu beschliessen. Heute sei dies mit dem sogenannten autonomen Nachvollzug von EU-Direktiven möglich.
Wo die Volksinitiative von Kompass Europa steht
Wie genau Kompass Europa eine Annäherung an die EU mit einer Volksinitiative bodigen will, verrät Erzinger nicht. Man sei unter Hochdruck am Arbeiten. Die Gruppierung hat Mitte Dezember mit dem Entwurf des Initiativtextes begonnen. «Er ist relativ weit fortgeschritten», sagt Erzinger. Beraten würden sie durch die PR-Agentur Farner. Man brauche «noch ein paar Wochen», bis klar sei, ob man die Initiative auch tatsächlich lancieren könne. «Es ist derzeit noch offen, ob und in welcher Form man ein Volksbegehren» starte.
Die Absicht: Nicht einfach Nein zu sagen, sondern «eine Grundsatzdebatte zu führen, welchen Weg die Schweiz gegenüber der EU einschlagen» wolle. Er betont, dass diese Initiative «nichts mit Partners Group zu tun hat», sondern vor drei Jahren als «eine Privatinitiative» gegründet worden sei.
Die Argumente der Opposition ähneln einander
Erzingers Argumente klingen, als ob sie mit dem früheren NZZ-Wirtschaftschef Gerhard Schwarz abgesprochen wären. In einer Kolumne vom Dienstag bezeichnet der konservativliberale Ökonom Cassis’ Vorhaben der dynamischen Übernahme von EU-Vorschriften «als nicht kompatibel mit dem Schweizer Staatsmodell». Sein Projekt gefährde «die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Schweiz».
Die Schweiz könne nach Einsetzung eines Vertrags, so wie er jetzt angedacht sei, weiterhin in sachfremden Bereichen politisch erpresst werden können, wenn die Schweiz sich nicht so verhalte, wie es Brüssel verlange. Dieser Kritikpunkt ist identisch mit jenem von Kompass Europa.
Die Schweiz soll Wohlstandseinbussen hinnehmen
Bemerkenswert ist, dass Schwarz sich gegen den Wohlstand wendet – für ihn Hauptkriterium für oder gegen eine bilaterale Annäherung. Der Ökonom behauptet, dass die Sicherung des hürdenfreien Zugangs der Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt «ein kurzfristiger Vorteil» sei. Dieser werde «weit überschätzt» und der Preis dafür bagatellisiert. Der Preis eines solchen Ankommens sei «sehr hoch», sagt Schwarz, ohne Beweise anzuführen. Im Umkehrschluss heisst dies: Die Schweiz solle lieber auf Wohlstand verzichten, als sich mit der EU zu einigen und näher an sie heranzurücken.
Unterstützung erhalten die Partners-Group-Partner und Ex-NZZ-Ökonom Schwarz von der SVP. «Es ist gut, wenn andere Kräfte im Land den Widerstand gegen ein solches Abkommen aufbauen», sagt SVP-Nationalrat Thomas Matter (57). Man habe sich mit Gantners Kompass Europa nicht abgesprochen, man stehe aber miteinander «im losen Kontakt». Dieser lose Kontakt dürfte weit enger sein als behauptet.
Undankbare Insider
Der bekannteste Wirtschaftsvertreter der Befürworterseite erneuerter bilateraler Verträge ist der Ipsomed-Chef und FDP-Nationalrat Simon Michel (46). Der Konzernchef war bis Mittwoch für eine Reaktion auf die beissende Kritik der Partners-Group-Gründer nicht erreichbar.
Dessen Opposition dürfte Michel besonders schmerzen, hatte er sie doch während der Sondierungsgespräche nach Bern geholt und sie in die Details eingeweiht. Die «Handelszeitung» hatte darüber berichtet. Jetzt spielen Gantner, Wietlisbach und Erni diese Insiderkenntnisse voll gegen Michel aus.