Bereits in wenigen Tagen wird bekannt, wie viel wir ab 2024 für unsere Krankenkassenprämien bezahlen müssen. Ein letztes Mal wird Gesundheitsminister Alain Berset (51) die Prämien präsentieren – und wohl für einen breiten Aufschrei bei der Bevölkerung und bei den Parteien sorgen.
Denn absehbar ist: Um gesetzeskonforme – sprich kostendeckende – Prämien anzubieten, müssten die Kassen um 8 bis 9 Prozent aufschlagen. Dies, nachdem der Aufschlag 2023 im Mittel 6,6 Prozent betragen hatte. Der Prämienhammer ist programmiert.
Ambulante Behandlungen sind Prämientreiber
Hauptgrund für die steigenden Prämien ist die sinnvolle, für die Kassen aber teure Ambulantisierung des Gesundheitswesen. Immer mehr Eingriffe müssen nicht mehr im Spital gemacht werden, sondern können ohne Übernachtung und Überwachung erledigt werden. Das spart im System Kosten. Nicht aber bei den Kassen: Diese bezahlen ambulante Eingriffe zu 100 Prozent, während die Kantone bei Spitalbehandlungen mitfinanzieren.
Wie aber lässen sich massive Prämiensteigerungen künftig vermeiden? Welche Ideen gibt es, um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken?
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Sicher nicht durch eine Abschaffung des Grundversicherungsobligatoriums, wie sie von der Zürcher SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (44) kürzlich – wohl als kalkulierter Tabubruch – ins Spiel gebracht wurde. Aber wie dann?
30 Jahre Reformstau
Eigentlich liegen die wirksamen Rezepte längst auf dem Tisch. Expertin Monika Merki Frey von Merkihealth, einer Beratungsfirma im Gesundheitswesen, erinnert daran, dass schon kurz nach der Abstimmung über das Krankenversicherungsgesetz anno 1994 klar geworden sei, «dass es in Kürze wieder einer grösseren Reform bedarf».
Passiert aber sei nichts. «Damals waren die Entscheidungsträger aus Angst nicht bereit, Reformen zur Kostendämmung ernsthaft zu planen und umzusetzen», so Merki. «Und heute ist es genau gleich.» Es sei frustrierend.
Gesundheitsökonom Heinz Locher bläst ins gleiche Horn. «Ein entscheidender Punkt, nämlich die Einhaltung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, wird nicht thematisiert. Dabei ist die Gesetzgebung doch verbindlich!» Locher spricht von einem «Trauerspiel». Wenn die rund 800 Angestellten des Bundesamtes für Gesundheit ihren Kernauftrag nicht oder nicht konsequent genug wahrnehmen, könnte man auch von einem Staatsversagen sprechen.
Frage der Standortqualität
Allerdings ist vorab auch festzuhalten, dass die Schweiz über ein hochstehendes Gesundheitswesen verfügt. «Der Erhalt der Versorgungssicherheit und die damit geschaffene Standortqualität sollten im Vordergrund der politischen Aktivitäten stehen», analysiert Katja Berlinger, Chefin der Kinderarztkette Swiss Medi Kids und Verwaltungsrätin der Spitalgruppe Insel. Die Praktikerin hält fest: «Das Gesundheitswesen ist für ein wohlhabendes Land wie der Schweiz mit 12 Prozent des BIP nicht zu teuer. Die wirklichen Probleme liegen nicht bei den steigenden Kosten, sondern in der Intransparenz und Fehlerhaftigkeit des heutigen Systems.»
Also: Welche Reformen braucht es? Hier sind fünf Ideen:
Schluss mit Medikamentensonderfall Schweiz
Mit gut 8 Milliarden Franken fallen die Medikamentenkosten in der Grundversicherung fast so stark ins Gewicht wie die ambulanten ärztlichen Leistungen – stärker notabene als stationäre Spitalaufenthalte. Trotzdem leistet sich die Schweiz ein aufwändiges eigenes Zulassungssystem sowie nationale Regularien. Das treibt die Kosten in die Höhe. Katja Berlinger von Swiss Medi Kids fordert daher: «Wir sollten die Zulassung von Medikamenten in der Schweiz vereinfachen. Insbesondere sollten wir ausländische Zulassungen aus Gebieten mit einer vergleichbaren Arzneimittelkontrolle – zu denken ist in erster Linie an die EU – übernehmen respektive anerkennen. Inklusive der Vergütungsregelung.»
Ausserdem hält es Berlinger für sinnvoll, das bestehende Preissystem für lebenslange medikamentöse Therapien neu zu berechnen, um so die Kosten zu senken.
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Beraterin Monika Merki Frey ergänzt: «Es muss endlich Transparenz bei den Medikamentenpreisen geben. Das System der Preisbildung ist im Krankenversicherungsgesetz festzuhalten.» Das schweizerische «Tabu» der Preisfestsetzung müsse fallen, so Merki Frey weiter.
Wichtig dabei: Innovationen wie neue Antibiotika oder neue Krebsbehandlungen sollen und müssen sich für die Pharmaindustrie lohnen. Die Preise für das Gros der sogenannt unechten Innovationen, welche die Gesundheitsbudgets belasten, sind markant zu senken.
Kantone im Spitalbereich entmachten
Jérôme Cosandey von Avenir Suisse bringt es kurz und knapp auf den Punkt: «Die kantonalen Spitallisten sollten abgeschafft werden und durch national gültige Qualitätskriterien ersetzt werden.» Alle Spitäler, welche diese nationalen Kriterien erfüllen, dürfen der Versicherung und dem Wohnkanton des Patienten oder der Patientin Rechnung stellen, die anderen nicht. Damit, so ist Cosandey überzeugt, würden sich die Kliniken spezialisieren. «Und teure, redundante Strukturen werden reduziert.»
Ähnliches schwebt auch Expertin Merki Frey vor. «Die öffentliche Hand muss – unabhängig von Reaktionen der Bevölkerung – den politischen Willen aufbringen, unwirtschaftliche stationäre Institutionen nicht mehr finanziell zu unterstützen.» Es gehe nicht in erster Linie darum, Spitäler zu schliessen. Sondern um Umnutzung, Kooperation und Spezialisierung. So sei im Kanton Solothurn das Spital Breitenbach zu einem Demenzzentrum geworden, im Kanton Aargau das Spital Brugg zu einem medizinischen Zentrum, auch für ambulante Chirurgie.
Generell gelte, so Merki Frey: Die Kantone, welche im Spitalbereich oft Besitzer, Betreiber und Leistungserbringer gleichzeitig seien, seien voller Interessenkonflikte und deshalb heikel. «Spitäler und Kliniken sind von der öffentlichen Hand loszulösen. Sie sollen privatrechtlich und nach wirtschaftlichen Kriterien geführt werden.»
Zwangsfusionen für ineffiziente Krankenkassen
Seit die UBS die Credit Suisse geschluckt hat, wissen wir: Schlecht geführte, ineffiziente Banken können vom Staat zu einer Übernahme genötigt werden. Ähnlich sollte der Staat auch bei den Krankenkassen vorgehen. Diese seien, hält Gesundheitsunternehmerin Katja Berlinger fest, im obligatorischen Bereich «Durchführungsorgane des Bundes wie die Invalidenversicherung, die AHV-Ausgleichkassen oder die Arbeitslosenversicherer».
Und trotzdem würden sie an der langen Leine gelassen: «Spitäler erhalten nur Tarife, die gemäss Benchmarking wirtschaftlich sind. Krankenkassen hingegen können unwirtschaftlich handeln. Der Prämienzahler muss die hohen Verwaltungskosten immer zahlen.» Das sei zu ändern, fordert Berlinger: «Krankenversicherer, die gemäss Benchmarking zu hohe Verwaltungskosten haben, sind abzumahnen. Wenn sie die Kosten nicht senken können, sind sie zwangsweise zu fusionieren mit Krankenversicherern, die tiefere Verwaltungskosten ausweisen.»
Ausserdem, so Berlinger weiter, sei die personelle Verflechtung zwischen Politik und Kassen zu entzurren. «Nationalrätinnen und Ständeräte dürfen nicht mehr Einsitz nehmen in Organe der Krankenversicherer, so wie es auch bei anderen bundesnahen Betriebe wie der Ruag, der Post oder der Swisscom gehandhabt wird.»
Präventionsguthaben statt Vollkasko
Je teurer die Prämien, desto grösser der Anreiz der Versicherten, für das ausgegebene Geld eine Gegenleistung in Form von medizinischen Leistungen einzufordern. Dieser Teufelskreis ist zu durchbrechen. «Investitionen in Prävention müssen sich lohnen», sagt Berlinger. «Und es braucht eine bessere Gesundheitsbildung.» Dabei gehe es nicht um teure, vom BAG orchestrierte Kampagnen. Sondern um individuelles, eigenverantwortliches Engagement. Berlinger könnte sich vorstellen, dass allen Grundversicherten der Anspruch auf einen lebenslangen Präventionsbetrag in zu definierender Höhe eingeräumt würde.
Allerdings nimmt Beraterin Merki Frey die Versicherten auch in die Pflicht. Sie – ebenso wie Ärztinnen, Physiotherapeuten und andere frei praktizierende Leistungserbringerinnen – müssten zur digitalen Datenverarbeitung gezwungen werden. «Die Freiwilligkeit muss aufgehoben werden», so Merki Frey. Effizienz und Qualität könnten mit vertretbarem Aufwand nur gesteigert und gemessen werden, wenn sich niemand mehr um das elektronische Patientendossier drücken könne.
Durchsetzen statt dauernd reformieren
«Wie verhindere ich, dass ein Gesetz durchgesetzt wird?», fragt Unternehmerin Berlinger. Antwort: «Indem ich es immer wieder ändere.» Sie fordert, dass der «pathologischen Reformitis» endlich Einhalt geboten werde. Eigentlich müssten wir nur endlich sicherstellen, dass das Krankenversicherungsgesetz endlich «konsequent durchgesetzt» werde. Das gelte insbesondere für die Wirtschaftlichkeitsprüfungen von Behandlungen und die Qualitätsanforderungen an die Leistungserbringer.
Auch für Gesundheitsökonom Heinz Locher ist das Thema Legalität vordringlich. «Gesetze sind einzuhalten, Verstösse zu sanktionieren», fordert er. Allein schon die konsequente Anwendung der bestehenden Rechtsregeln würde dazu führen, dass einiges an medizinischem Hokuspokus nicht mehr über die Grundversicherung abgerechnet werden könnte. Und das könnte künftig den Prämienanstieg dämpfen.
Ständig wechselndes Personal
Haben solche Ideen praktische Umsetzungschancen? Wahrscheinlich nicht, befürchtet Merki Frey. «In diesem Jahr wird ein neues Parlament mit neuen Mitgliedern gewählt. Auch die Gesundheitskommissionen werden neu besetzt. Und bis dann alle eingearbeitet sind, ist die Hälfte der Legislatur schon wieder vorbei. Und der Wahlkampf beginnt wieder.»
Ähnliches gelte für die neue Ministerin oder den neuen Minister, der die Nachfolge von Alain Berset antreten werde. «Als neue Päpstin hat sie gar keine Chance, etwas zu bewegen. Denn letztlich entscheidet die Kurie, also das Parlament. Und die Kurie hat versagt.»