«Chaos, Armut, Hunger, Kälte, Tod.» Die SVP spart nicht mit Schreckensszenarien, wenn es um den möglichen Gas- und Strommangel im Winter geht. «Der Schweiz droht eine Energiekrise von nie da gewesenem Ausmass – mit katastrophalen Folgen für uns alle», warnt die Partei.
Schuld daran sei nicht etwa der russische Präsident Wladimir Putin (69) und sein Krieg in der Ukraine. Schuld seien die Schweizer Linken und Grünen, und ganz besonders Energieministerin Simonetta Sommaruga (62). «Sie hat den Ausbau der inländischen Stromproduktion absichtlich verschleppt, um eine Öko-Diktatur zu errichten», schimpft Fraktionspräsident Thomas Aeschi (43).
Die drohende Krise sei die logische Folge der Energiestrategie 2050, die die Schweiz nach dem verheerenden Unfall im japanischen AKW Fukushima beschlossen hat. Hätte man diesen Weg nicht eingeschlagen, wären auch im kommenden Winter genug Strom und Gas vorhanden.
Atomausstieg ist Zukunftsmusik
Nur: Stimmt das auch? Die Energiestrategie 2050 ruht auf zwei wesentlichen Säulen: dem schrittweisen Ausstieg aus der Atomkraft und dem Ausbau erneuerbarer Energien. Bei Letzterem hat sich seit 2010 – also dem Jahr vor Fukushima – vieles getan.
Der Atomausstieg beschränkt sich bis heute auf das AKW Mühleberg, das Ende 2019 vom Netz ging. Die vier anderen Schweizer Meiler – Beznau I und II, Gösgen und Leibstadt – produzieren nach wie vor im selben Umfang weiter.
Mehr Zu- als Abbau
Durch die Abschaltung von Mühleberg fehlen der Schweiz etwa 3 Terawattstunden (TWh) Strom. Aber: Seit 2010 wurden insgesamt 3,4 TWh Strom aus erneuerbaren Energieträgern zugebaut. Mühleberg ist somit schon mehr als kompensiert.
Und das bei einigermassen stabilem Stromverbrauch von etwa 57 TWh in den letzten zehn Jahren und trotz Bevölkerungswachstum. Was nichts daran ändert, dass die Schweiz im Winter seit 2010 rund 4 Terawattstunden Strom importieren muss.
Mühleberg wäre eh vom Netz
Kommt hinzu: Ausstieg hin oder her, der Strom von Mühleberg würde in diesem Jahr ohnehin fehlen. Denn 2008 reichte deren Betreiberin, die BKW, ein Gesuch für ein neues AKW ein, das Mühleberg am selben Standort ersetzen sollte.
Wäre alles ganz normal gelaufen, wäre dieses just jetzt am Aare-Ufer im Bau. Doch dafür hätte das alte Kraftwerk zuvor abgestellt und rückgebaut werden müssen. Und wie die BKW auf Anfrage sagt, seien ihre Experten damals davon ausgegangen, dass das neue AKW «im besten Fall frühestens 2023, realistischerweise aber eher 2025 erstmals hätte Strom produzieren können».
Gaskraftwerke fehlen – Gas vielleicht auch
2022 stünde die Schweiz in Sachen AKW ohne Fukushima also am gleichen Punkt, wie sie tatsächlich steht. Oder schlechter: Denn ob Energiestrategie so viel erneuerbare Energie zugebaut worden wäre, ist fraglich.
Was man Bundesbern vorwerfen kann: Obwohl die damalige Energieministerin Doris Leuthard (59) immer gesagt hatte, dass es zumindest für den Übergang oder Schlechtwetterperioden ein bis zwei – klimapolitisch eher fragwürdige – Gaskraftwerke brauchen könnte, stehen diese heute immer noch nicht. Bleibt die Frage, wie sicher die Schweiz das Gas erhalten würde, das es braucht, um die beiden Kraftwerke zu betreiben. Eine Frage, die derzeit ganz Europa umtreibt.
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