Kaum Zeit dafür, einen Schluck Wasser zu trinken, Neun-Stunden-Tage, eine spärliche Mittagspause – und abends, wenn in der Praxis Ruhe einkehrt, wisse sie kaum noch, wie sie heisst. Die 31-jährige Linda Habib arbeitet seit zwei Monaten in einer Gruppenpraxis in Bern. Sie sagt bereits: «Hausärztin zu sein, ist unglaublich spannend, ich liebe diesen Job. Wir sehen alles, was es an medizinischen Problemen gibt. Aber ich weiss nicht, wie lange ich das noch zu diesen Bedingungen machen will.»
Und damit ist Habib nicht allein: Die sechs jungen Hausärztinnen und Hausärzte, mit denen SonntagsBlick sprechen konnte, beschreiben ihren Job als fordernd, sinnstiftend und abwechslungsreich. Man treffe auf alle Patientengruppen, vom Kindergartenkind bis zum Senioren, beschäftige sich mit allen Organen, allen denkbaren Krankheitsbildern – doch auch sie stört die immer knappere Zeit für Abklärungen und dass sie zunehmend Patienten abweisen müssen.
Deshalb fordert jetzt der Hausärzteverband vom Bundesrat rund 200 Millionen Franken für ein «Impulsprogramm Hausarztmedizin». Dieses soll die Hausarztmedizin für junge Medizinerinnen und Mediziner attraktiver machen. Das Geld soll aus einem Topf von Bund und Kantonen für Bildung, Forschung und Innovation Geld abgezweigt werden und in den nächsten vier Jahren zweckgebunden ausgezahlt werden. 100 Millionen sollen an Universitäten gehen, damit diese die Medizinstudienplätze von 1300 auf 1800 erhöhen. Die restlichen rund 100 Millionen sollen unter anderem an bestehende Weiterbildungsprogramme fliessen, damit diese die Zahl der Praxisassistenzstellen von heute 280 auf neu 720 erhöhen.
Hausarztpraxen finden keine Nachfolge
Es sei dringend notwendig, mehr Hausärzte auszubilden, denn: Bereits heute würden über 4000 Hausärztinnen und Hausärzte fehlen. Tatsächlich hat laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium ein Grossteil der Gemeinden nur halb so viele Hausärzte, wie eigentlich benötigt würden. Empfohlen wird ein Hausarzt pro 1000 Einwohner.
Immer mehr Hausarztpraxen müssen schliessen, weil sie keine Nachfolge finden. So dieses Jahr auch zwei Berner Hausarztpraxen, deren Leiter pensioniert wurden. Die Praxis, in der Habib arbeitet, hat die Patienten übernommen und kann jetzt selbst keine neuen Patienten mehr aufnehmen.
Mehr zur Versorgungskrise
«Wenn wir Hausärztinnen und Hausärzte immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit behandeln müssen, wird es irgendwann zu viel, dann können wir unsere Arbeit nicht mehr gründlich machen», sagt Linda Habib, während sie sich in ihrem Sprechzimmer durch ihren vollen Terminkalender scrollt. Viele ihrer Kolleginnen würden bereits heute alle 15 Minuten neue Patienten sehen. Sie habe darauf bestanden, mehr Zeit für die einzelnen Patienten einzuplanen. Es stört sie, wenn sie nach langen, intensiven Arbeitstagen zu kaputt ist, um sich etwas zu kochen, Sport zu machen oder Freunde zu treffen: «Wir Jungen wollen viel für den Beruf geben, aber nicht mehr alles.»
Bald nur noch halb so viele Hausärzte?
Laut dem Hausärzteverband zeichnet sich ab, dass es in der Schweiz in zehn Jahren nur noch halb so viele Allgemeinmediziner geben wird wie heute. Die Folgen: monatelange Wartefristen, unerkannte Gesundheitsprobleme, hohe Gesundheitskosten wegen unnötiger und teurer Notfallkonsultationen und Spitalaufenthalte.
Doch die Schweizer Bevölkerung wächst, die Zahl der neuen Hausärztinnen nicht. Zudem brauche es heute zwei Hausärzte, um einen pensionierten Hausarzt zu ersetzen, sagt der Hausärzteverband. Für jüngere Hausärztinnen und Ärzte habe die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben eine hohe Priorität, sie würden eher in Teilzeitpensen arbeiten. Wenn es mehr Hausärzte gibt, sinkt auch der Druck auf die einzelnen Praxen, ist der Verband überzeugt.
Der Berufsverband der Ärztinnen und Ärzte FMH unterstützt das Anliegen des Hausärzteverbands, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen und kritisiert, statt ausreichend neue Studienplätze zu schaffen, habe man bisher ausländische Ärzte in der Schweiz geholt.
Auch der Bundesrat räumt ein, dass es mehr Ausbildungsplätze braucht, der Entscheid zum Ausbildungsbudget steht aber noch aus. Der Bundesrat hat dem Parlament seinen Plan für die Ausgaben für Bildung, Forschung und Innovation für den Zeitraum 2025 bis 2028 bereits vorgelegt, Anpassungen sind aber immer noch möglich. Im September wird der Ständerat als Zweitrat darüber abstimmen, wie die Fördergelder verteilt werden. Die von den Hausärzten geforderten 200 Millionen würden entweder in den Universitäten umverteilt oder müssten zusätzlich gesprochen werden.
Junge wollen mehr Geld und bessere Ausbildung
Die 35-jährige Haus- und Kinderärztin Eva Hugentobler, die in Boll BE in einer Gruppenpraxis arbeitet, erzählt etwa, dass sie nur noch Kindern aus dem Dorf einen Termin geben könne: «Viele Familien, insbesondere in ländlichen Regionen, machen sich grosse Sorgen, wenn ihr Kind nirgends einen Platz findet. Schliesslich gehen sie zur Notfallstation, was wiederum die Spitäler überlastet.»
Die jungen Ärztinnen und Ärzte kritisieren auch, dass man bei einer Spezialisierung etwa in Herzchirurgie oder Neurologie deutlich besser verdient als in der Hausarztmedizin. Das schrecke viele Junge ab. Ein weiterer Kritikpunkt: Im Studium und in der Weiterbildung würde viel mehr über Spezialisierungen gesprochen als über die Allgemeinmedizin.
«Als Hausarzt fühlt man sich allein»
Eine 25-jährige Medizinstudentin sagt, die Universität Zürich bemühe sich bereits darum, die Hausarztmedizin attraktiver zu gestalten. Es gebe im Vergleich zu früher bereits mehr Vorlesungen, die von Hausärzten gehalten würden. Sie träumt von einer eigenen Praxis irgendwo auf dem Land, wo der Bedarf an Hausärzten besonders hoch ist, fühlt sich aber nicht ausreichend darauf vorbereitet: «Wir lernen im Studium nicht, wie man mit den ganzen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen umgeht, die so eine Praxis mit sich bringt.»
Auch Mario Venzin (40) wusste das als junger Medizinstudent nicht. Er hatte damals grosses Glück, wie er sagt. Denn ein Hausarzt nahm ihn unter seine Fittiche und zeigte ihm, wie man eine ländliche Praxis führt: «Als Hausarzt ist man nicht nur Mediziner, sondern auch Unternehmer», sagt Venzin. Als der Arzt vor vier Jahren in Pension ging, konnte Venzin die Praxis samt bestehendem Patientenstamm übernehmen und führt seither die einzige Praxis im Bündner Bergdorf Vella. Venzin sagt, dass sich viele gar nicht richtig vorstellen können, wie es sei, Hausarzt zu sein, und sich deshalb dagegen entscheiden würden.
Alex Mettraux (34), Hausarzt in der Clarapraxis in Basel, stört vor allem, dass zukünftige Hausärzte und Hausärztinnen von ihrer fünfjährigen Weiterbildung nur maximal ein Jahr in einer Hausarztpraxis anerkennen lassen können. Generell werde die Hausarztmedizin nicht ausreichend gefördert: «Während der mehrheitlich im Spital stattfindenden Weiterbildung trifft man keine Hausärzte, und es fehlt an Vorbildern. Man fühlt sich ziemlich allein.» Als Vorstandsmitglied der Organisation Junge Haus- und Kinderärztinnen Schweiz veranstaltet er deshalb regelmässig Stammtische, bei denen sich junge und angehende Hausärzte austauschen und vernetzen können: «Ich kann und werde das Schweizer Gesundheitssystem nicht ändern, aber ich kann junge Hausärztinnen fördern und ihnen zeigen, wie interessant und vielfältig der Beruf ist.»