«Sieg Heil», «Juden Pack» und Hakenkreuze – eingeritzt in die Tür der Bieler Synagoge. Nicht im Jahr 1939, sondern vergangenen Donnerstag. Kein Einzelfall: Dieses Jahr wurden bereits drei weitere Angriffe auf jüdische Institutionen registriert. Dass Antisemitismus – so ungern man es wahrhaben will – auch noch heute ein Problem ist, zeigt der neuste Antisemitismusbericht vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) sowie der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA).
«Wir warnen schon seit längerem: Auf Worte werden Taten folgen», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär der SIG. Wie der Bericht zeige, wimmle es im Netz nur so von judenfeindlichen Parolen. Dieser listet 485 gravierende antisemitische Vorfälle allein im Onlinebereich auf. «Was 2020 besonders auffallend war: Die Hälfte der Parolen hingen mit Verschwörungstheorien zusammen.»
«Rothschilds stecken hinter Pandemie»
Und knapp die Hälfte davon sind Corona geschuldet. Denn eine Krisensituation ist der perfekte Nährboden für Antisemitismus. Vor allem auf Twitter, Facebook und seit 2020 auch auf der Messenger-App Telegram – der allseits beliebten Plattform unter Verschwörungstheoretikern – werden die judenfeindlichen Parolen verbreitet.
«Die Juden» hätten das Virus absichtlich in die Welt gesetzt, heisst es. Oder aber es gebe das Virus gar nicht, und jüdische Familien wie die Rothschilds würden hinter der Pandemie stecken – mittels Impfungen wollen sie die Menschen sterilisieren oder gar umbringen. «Vor allem im November haben wir sehr viele solche Verschwörungstheorien registriert», so Kreutner. Da bestehe ganz klar ein Zusammenhang mit dem zweiten Lockdown und der Corona-Müdigkeit vieler.
Bundesrat, Bill Gates und WEF sind häufiger schuld
Dennoch sei klar zwischen Antisemiten und Corona-Skeptikern zu unterscheiden, heisst es im Bericht. Zwar würden auch im Umfeld der Letzteren judenfeindliche Verschwörungstheorien zirkulieren, doch im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern und den USA seien der Bundesrat, Microsoft-Gründer Bill Gates oder Klaus Schwab und sein WEF weitaus häufiger angebliche Urheber der Pandemie und der «Neuen Weltordnung» als «die Juden».
Weil sich die Corona-Skeptiker aber vor allem in Chatgruppen austauschen, sehen SIG und GRA dennoch ein erhöhtes Risiko für antisemitische Radikalisierung in diesen Kreisen. «Einer solchen Entwicklung gilt es unter allen Umständen entgegenzutreten», warnen sie im Bericht.
Viele Holocaust-Vergleiche
Als «grosses und ernst zu nehmendes» Problem identifizieren die Autoren zudem die Konjunktur von Holocaust-Vergleichen. Corona-Skeptiker würden häufig unangebrachte Vergleiche zum nationalsozialistischen Regime sowie zur Verfolgung und Ermordung der Juden ziehen.
«Solche Vergleiche sind nicht per se antisemitisch», heisst es im Bericht. Doch das Tragen eines Judensterns mit der Aufschrift «Umgeimpft» oder «Maskenattest» wie sie am Wochenende an der Corona-Demonstration in Wohlen AG zu sehen waren, seien äusserst geschmacklos und zeugten von fehlendem historischem Wissen. Zwar wollen die Corona-Skeptiker die Leiden der Opfer des Holocausts nicht explizit banalisieren – deswegen seien solche Aussagen auch nicht in die Statistiken des Berichts eingeflossen. Doch in ihrer Menge würden sie doch zu einer Verharmlosung der damaligen Ereignisse führen, warnen SIG und GRA.
Staat darf nicht länger zuschauen
SIG und GRA kommen zum Schluss, dass die Lage angespannt sei. Dass 2020 keine jüdischen Menschen physisch angegriffen wurden, täusche über die Tatsache hinweg, dass die Gefahr eines terroristischen Anschlags auf ein jüdisches Ziel vorhanden sei, warnt der Bericht. «Wir sind – gerade jetzt während der Pandemie – in einer Situation, in der es Gewaltbereitschaft gegen Juden gibt», zeigt sich auch Kreutner alarmiert.