Sonntags-Blick: Herr Lehmann, Sie waren als Athlet nie bei Olympischen Spielen.
Urs Lehmann: Vor Albertville 1992 hatte ich das Renndress schon gepackt, als ich mich drei Tage vor der Eröffnungsfeier am Knie verletzte. So verfolgte ich die Spiele vom Spitalbett aus. In Lillehammer fehlte ich ebenfalls verletzungsbedingt. 1998 war ich bereits zurückgetreten.
Sie hätten also die Chance, etwas nachzuholen.
Ich werde nicht als Vorfahrer antreten bei Olympia, wenn Sie das meinen (lacht).
Jetzt will Swiss Olympic zusammen mit den Wintersportverbänden, darunter Swiss-Ski, Olympia in unser Land holen. Warum sollte die Schweiz Winterspiele austragen?
Das ist die «one-million-dollar question». Wenn Sie mich Anfang Jahr gefragt hätten, wäre meine Antwort gewesen: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in meinem Leben Olympische Spiele in der Schweiz erleben.»
Was ist seither passiert?
Wir hatten am 23. März zusammen mit Swiss Olympic und den anderen Wintersportverbänden eine Sitzung beim IOC in Lausanne, die mich zum Nachdenken angeregt und sogar inspiriert hat. Man hat uns aufgezeigt, dass wir bis 2030 in der Schweiz im Prinzip Olympische Winterspiele organisieren – mit all den Weltmeisterschaften, von Ski alpin über Eishockey und Bob bis hin zu Biathlon, Curling oder Snowboard/Ski Freestyle, die in den nächsten Jahren bei uns stattfinden. Über die nötige Infrastruktur verfügten wir damit ohnehin, zudem könnten wir uns die geballte Organisationskompetenz aus diesen Grossanlässen zunutze machen.
Und jetzt will das IOC, dass die Schweiz all diese Titelkämpfe 2030 oder später unter dem Label «Olympia» noch einmal zusammengefasst durchführt?
Die Botschaft war: «Ihr könnt das!» Das IOC hat ja bereits verlauten lassen, dass man in Zukunft kleinere, nachhaltigere Spiele durchführen und den Bewerbungsprozess verändern will. Diesen Sinneswandel haben wir nun aufgezeigt bekommen. Man will ein dezentrales Konzept, aufbauend auf bestehenden Infrastrukturen, weg vom Gigantismus. Das kann für die Schweiz interessant sein. Wenn das die Rahmenbedingungen sind, lohnt es sich, darüber nachzudenken.
Hand aufs Herz: Das IOC ist doch einfach unter Druck, weil man für 2030 noch keine offiziellen Kandidaten hat, die die Winterspiele ausrichten wollen.
Das kann eine einmalige Chance für uns sein. Das IOC merkt gerade, dass es in unseren Breitengraden schwierig ist, Olympia-Ausrichter zu finden. Wenn du ein Produkt anbieten willst und nichts in der Pipeline hast, musst du etwas ändern. Das will das IOC jetzt tun und hat uns entsprechende Signale zukommen lassen. Darum sind wir nun mit dem IOC in einen sogenannten «kontinuierlichen Dialog» eingetreten, wo geprüft wird, wie eine Schweizer Kandidatur für 203x aussehen könnte – das heisst, für die Jahre 2030, 2034 oder 2038.
Jetzt sind Sie Feuer und Flamme für die Spiele?
Wir sind eine Wintersportnation, wir haben die notwendige Infrastruktur und das Know-how – wir haben sämtliche Voraussetzungen. Alles, was an den Spielen in der Vergangenheit kritisiert wurde, scheint wegzufallen: der Gigantismus, die Geldverschwendung, die überrissenen Investitionen. Die nachvollziehbaren Argumente, die es gegen Olympia in der Schweiz zuletzt gab, sind praktisch hinfällig. Wenn das so bleibt, sollten wir ernsthaft darüber nachdenken. Wir können auch ein Vorbild sein und zeigen, wie nachhaltige Spiele in Zukunft aussehen können. Es ist ja auch so: Man kann kritisieren, wenn etwas nicht gut läuft. Aber dann soll man auch Verantwortung übernehmen, wenn man es besser machen kann. Diese Gelegenheit könnten wir jetzt bekommen.
Werden wir konkret: Was sollen die Spiele kosten?
Ich muss betonen: Wir sind noch dabei, die Machbarkeit zu prüfen. Aber man sieht, dass die operativen Budgets der Spiele kleiner werden, die Beiträge der öffentlichen Hand dafür ebenfalls. Allein die Kandidaturphase für die Winterspiele 2026 im Wallis hat 25 Millionen Franken gekostet, weil es darum ging, in einer Kampfkandidatur gegen andere mögliche Ausrichter anzutreten. Jetzt rechnen wir noch mit einer bis anderthalb Millionen, die der Bewerbungsprozess kosten würde, weil dieser nun vom IOC begleitet wird und es nicht zu einem Wettrüsten kommt. Das hat mit dem Terminus Gigantismus definitiv nichts mehr zu tun, der in der Vergangenheit im Zusammenhang mit Olympia bemüht wurde.
Und die Spiele selber? In der Vergangenheit gab es genügend Beispiele, wo der Steuerzahler am Ende einspringen musste.
In Sotschi 2014 hat Russland rund 50 Milliarden Franken in Infrastruktur investiert. Natürlich will das in der Schweiz niemand. Ich kann nachvollziehen, warum die Schweizer in den letzten Jahren skeptisch waren, wenn es um Olympische Spiele ging. Ein Killer der letzten Schweizer Kandidatur war, dass der Bund Defizitgarantien von rund 800 Millionen Franken geben musste. Da verstehe ich jeden, der sagt: «So etwas will ich nicht!» Das wäre diesmal anders. Die Unterstützung durch die öffentliche Hand wäre im Rahmen dessen, was es für die einzelnen Weltmeisterschaften braucht, wo sich niemand stört. Unterstützung durch die öffentliche Hand werden wir eher an einem anderen Ort brauchen: bei den Paralympics. Aber das ist vermittelbar und wäre sinnstiftend für die Schweiz, denke ich.
Sie behaupten, dass es gelingt, die Spiele für den Schweizer Steuerzahler kostenneutral auszurichten?
Wir haben die Budgets der Spiele von Paris 2024 gesehen: Da kommen noch gerade mal vier Prozent der Gelder von der öffentlichen Hand. Das sind Zahlen, die der Bevölkerung meines Erachtens vermittelbar sind. Wir gehen zudem davon aus, dass wir die Kosten noch einmal deutlich senken können.
Mit Adolf Ogi hat sich einst der grösste Sportfan, der je im Bundesrat sass, an Olympia die Zähne ausgebissen. Warum sollte es Sportministerin Viola Amherd besser ergehen?
Weil die Vorzeichen völlig anders sind. Die Bilder von Adolf Ogi und den konsternierten Menschen im Wallis sind uns noch präsent. Jetzt ist der Prozess anders. Wir sind in einem Dialog mit dem IOC, aus dem wir jederzeit aussteigen können, wenn es uns zu gross wird. Früher hat das IOC ganz andere Werte gehabt. Unter der Prämisse von damals würde ich sagen: «Vergiss es!»
Gibt es Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?
Nein, wir wollen Pionierarbeit leisten und etwas komplett Neues, Innovatives kreieren. Mit jedem Tag wächst meine Überzeugung, dass wir hier mit unserer Erfahrung und mit vernünftigen Mitteln etwas Grosses erreichen können. Es handelt sich um eine einmalige Chance für die Schweiz. Wir können die Ersten sein, die Winterspiele in einem ganzen Land und mit einem dezentralen Konzept statt in einer bestimmten Region organisieren.
Cortina 2026 beansprucht keine öffentlichen Gelder. Kann man sagen, dass Olympische Spiele in demokratischen Staaten nur noch Chancen haben, wenn sie den Steuerzahler nichts kosten?
Das ist eine plausible Hypothese. Wenn man zurückschaut, hat das Gefühl der Leute, für den Olympia-Gigantismus bezahlen zu müssen, den Ausschlag gegen die Spiele gegeben. Man müsste es diesmal anders hinbekommen.
Schaffen Sie das?
Wir haben sogar finanzielle Argumente für Winterspiele in der Schweiz. Bei Cortina geht man bei der Wertschöpfung von einem Faktor 1,5 aus. Die Ski-WM 2027 in Crans-Montana liegt bei Faktor 4, die Biathlon-WM 2025 in Lenzerheide ebenfalls. Die Einnahmen für den Staat über die Steuern dürften in Cortina bei 300 bis 350 Millionen liegen. Wenn man die gesamte Wertschöpfungskette anschaut, kann man davon ausgehen, dass es kostenneutral sein würde. Wir gehen davon aus, dass wir keine Defizitgarantie des Staates brauchen würden.
Der 54-jährige Lehmann fuhr früher selber Skirennen. Der Aargauer krönte seine Karriere 1993 in Morioka mit dem Weltmeistertitel in der Abfahrt (Foto). Seit 2008 ist der Betriebswirt mit Doktortitel Präsident von Swiss-Ski. 2021 kandidierte er für das Präsidialamt des Internationalen Skiverbandes (FIS). Doch Nachfolger von Gian Franco Kasper wurde schliesslich Johan Eliasch. Lehmann ist mit der ehemaligen Freestyle Skiing Weltmeisterin Conny Kissling verheiratet.
Der 54-jährige Lehmann fuhr früher selber Skirennen. Der Aargauer krönte seine Karriere 1993 in Morioka mit dem Weltmeistertitel in der Abfahrt (Foto). Seit 2008 ist der Betriebswirt mit Doktortitel Präsident von Swiss-Ski. 2021 kandidierte er für das Präsidialamt des Internationalen Skiverbandes (FIS). Doch Nachfolger von Gian Franco Kasper wurde schliesslich Johan Eliasch. Lehmann ist mit der ehemaligen Freestyle Skiing Weltmeisterin Conny Kissling verheiratet.
Wird das Volk das letzte Wort haben?
Nicht zwingend, aber natürlich kann das Referendum ergriffen werden. Die Bevölkerung soll miteinbezogen werden, keine Frage. Deshalb wollen wir die Leute jetzt vom neuen, dezentralen Konzept überzeugen.
Die Zeit ist knapp. Bedeutete ein Referendum das Aus für die Kandidatur?
Der nationale Ansatz gibt uns eine gewisse Flexibilität. Wollen zum Beispiel die Walliser keine Skirennen, können wir auf die Bündner zugehen.
Klimakleber mögen keine Schneekanonen. Wie gewinnen Sie die Herzen der Umweltschützer?
Man muss sie einbeziehen, mit ihnen reden. Die Vergabe der Ski-WM 2027 an Crans-Montana hat gezeigt, dass dieser Dialog funktioniert. Auch ab 2030 werden irgendwo auf der Welt olympische Wettkämpfe stattfinden. Aus Nachhaltigkeitsgründen wäre es sinnvoll, wenn die Schweiz zum Zug käme. Die Infrastruktur ist hier vorhanden, eingespielte Organisationskomitees ebenso. Das wäre auf jeden Fall nachhaltiger als Spiele, wie wir sie in Peking 2022 gesehen haben.
Versprechen Sie uns gerade klimaneutrale Spiele?
Klimaneutral ist ein grosses Wort. Ich kann nicht versprechen, dass wir klimaneutral sein werden. Hingegen bin ich überzeugt, dass wir die nachhaltigsten Spiele in der Geschichte von Olympia austragen können.
Was sind die nächsten Schritte?
Das IOC verlangt Klarheit über die Finanzierung und eine glaubwürdige Organisation, die das Projekt stemmen kann. Das klare Bekenntnis von Sportministerin Viola Amherd war ganz wichtig, jetzt benötigen wir noch die breite Unterstützung der Öffentlichkeit. Wenn die laufende Machbarkeitsstudie in allen relevanten Bereichen positiv ausfällt und das Sportparlament Ende November grünes Licht gibt, kandidieren wir. Bereits im nächsten Sommer könnte das IOC die Winterspiele 2030 und 2034 vergeben. Es muss also alles sehr schnell gehen.
Grossveranstaltungen sorgen für Mehrverkehr. Die Infrastruktur ist jetzt schon am Anschlag. Hat es überhaupt genügend Platz für Olympische Spiele in der Schweiz?
Mit diesem neuen, dezentralen Konzept auf jeden Fall. Die Ski-WM in Crans-Montana 2027 wird eine grosse Kiste. Trotzdem ist der Verkehr dort kein Thema. Gleiches gilt für die Biathlon-WM 2025 in Lenzerheide. Dank ausgeklügelter Konzepte haben wir die Logistik im Griff. Lenzerheide setzt voll auf den ÖV, die An- und Heimreise mit dem ÖV ist im Ticket inbegriffen.
Was bedeutet Olympia heute?
Olympia ist das Höchste, was du als Sportler erreichen kannst. Es gibt nichts Grösseres. Olympiasieger werden nur alle vier Jahre gekürt. Das ist Ansporn und Inspiration für jede Sportlerin und jeden Sportler. Alle träumen davon mitzumachen, in einem olympischen Dorf zu wohnen für ein paar Wochen. Von der Chance, sich in den Geschichtsbüchern verewigen zu können. Olympische Spiele im eigenen Land bringen dem Sport wichtige Impulse. Doch Olympia hat eine Strahlkraft, die weit über den Sport hinausreicht. Wenn man es clever macht, bringt es ein Land vorwärts.
Derzeit ist in der Schweiz viel von einer Polarisierung die Rede. Corona hat die Gräben noch vertieft. Kann Sport eine Gesellschaft kitten?
Nelson Mandela sagte einmal: «Sport kann die Welt verändern.» Ich bin überzeugter denn je, dass Sport uns dabei helfen kann, schwierige Zeiten zu überstehen. In Covid-Zeiten war der Sport Inspiration und Motivation für viele Menschen, das lässt sich statistisch aufzeigen. Der neue, dezentrale Ansatz mit Wettkämpfen in allen vier Sprachregionen würde für unser Land verbindend wirken.
Wie gross ist die Chance, dass Olympische Spiele in der Schweiz stattfinden werden?
Skirennfahrer rechnen nicht mit Wahrscheinlichkeiten. Wenn du das erste Mal im Starthäuschen von Kitzbühel stehst und dir solche Gedanken machst, fährst du gar nicht erst los – und nimmst die Gondel runter. Solange die Chance ein Prozent ist, dass du das Ziel erreichst, startest du. Oder anders gesagt: Die Olympischen Spiele in die Schweiz zu holen, ist ein ambitioniertes Ziel. Aber es scheint machbar. Die Tür ist so weit offen wie noch nie zuvor. Wir Schweizerinnen und Schweizer müssen nun entscheiden, ob wir durch diese Tür gehen wollen oder nicht.