Ein Spital im Kanton Bern: Den kleinen Patienten plagt eine Lungenentzündung. Um sie zu bekämpfen, braucht er dringend Antibiotika. Die Ärztinnen greifen in solchen Fällen meist zu Amoxicillin. Seit kurzem aber ist das ein Problem: Dieses Medikament ist nicht mehr so leicht verfügbar, Ersatzprodukte verursachen häufig Nebenwirkungen wie Durchfall.
Solche und ähnliche Notlagen gehören heute zum Alltag in Spitälern und Arztpraxen. In einem Land, dessen Chemie- und Pharmaindustrie den bedeutendsten Sektor der Exportwirtschaft bildet und rund fünf Prozent zum Bruttoinlandprodukt beiträgt, herrscht Medikamentenmangel. Und es könnte alles noch schlimmer werden.
Die Gründe der Misere sind vielfältig. Arzneien, deren Patente abgelaufen sind, stammen mehrheitlich aus Indien oder China. Fielen dort in der Corona-Pandemie Produzenten aus oder kam es zu Unterbrüchen in den Lieferketten, spürte man das unverzüglich überall auf der Welt: Generika fehlten, Lagerbestände nahmen rasend schnell ab.
Verantwortlich ist aber auch das komplizierte Schweizer Verhältnis zur Europäischen Union. Seit der Bundesrat im Mai vor zwei Jahren die Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen mit Brüssel abgebrochen hat, werden bestehende Verträge nicht mehr aktualisiert.
Neue Arzneimittelregeln ohne die Schweiz
Ende April kündigte die EU eine grosse Reform ihrer Arzneimittelregeln an – auch um die Medikamentenengpässe zu beheben. Ziel sei die Schaffung eines Binnenmarkts, «durch den sichergestellt werden soll, dass alle Patientinnen und Patienten in der gesamten EU einen zeitnahen und gerechten Zugang zu sicheren, wirksamen und erschwinglichen Arzneimitteln haben».
Da die Schweiz bilaterale Abkommen im Pharmabereich mangels Rahmenabkommen nicht aktualisieren kann, droht der Verlust des barrierefreien Zugangs zum Binnenmarkt. Die Schweiz würde dann von der EU als «Drittstaat» behandelt – wie etwa Brasilien oder Australien.
Für die angespannte Versorgung mit Arzneimitteln hätte das möglicherweise schwerwiegende Konsequenzen. «Neue Hürden im offenen Warenaustausch würden die Situation verschlimmern», sagt Samuel Lanz (39) von Interpharma, dem Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz. Dass diese Sorgen berechtigt sind, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Nach Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen 2021 wurde Medizinaltechnik-Unternehmen in der Schweiz und der EU der Zugang zum jeweils anderen Markt erschwert. Mehr als 1000 Hersteller stellten ihre Lieferungen in die Schweiz ein.
Beat Vonlanthen (66), ehemaliger CVP-Ständerat und Präsident des Branchenverbandes Swiss Medtech, sagte damals: «Für aussereuropäische Firmen, die ihren Hauptsitz in Europa stationieren wollen, verliert die Schweiz gegenüber EU-Ländern aufgrund der Drittstaat-Bürokratie massiv an Investitions-Attraktivität.» Sorgen mache ihm auch, dass hiesige Start-ups ihren Sitz anstatt in der Schweiz vermehrt in der EU wählen könnten. Ein Szenario, das auch der Arzneimittelbranche droht.
Die Regierung schweigt
Nachrichten aus Bundesbern liessen allerdings hoffen: Ende März teilte der Bundesrat mit, man wolle noch im Sommer die Eckwerte eines Verhandlungsmandats für das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU präsentieren. Die Verwaltung hat dem Vernehmen nach ihren Job gemacht und besagte Eckwerte definiert. Allein: Von der Regierung hört man bislang wenig bis nichts.
Parlamentarier, die auf klare Beziehungen zur EU drängen, ärgert das – auch wegen der Arzneimittelversorgung. Gegenüber SonntagsBlick sagt GLP-Nationalrätin Melanie Mettler (45): «Die andauernde Medikamentenknappheit besteht wegen des fehlenden Rahmenabkommens mit der EU. Sie wird erst besser, wenn die Beziehungen zu unseren Nachbarländern geklärt sind.» Der Bundesrat müsse sofort einen Auftrag für das Verhandlungsmandat erteilen. «Alles andere wäre fahrlässig und gefährdet nicht nur den Wohlstand, sondern auch die Sicherheit in der Schweiz!»
Seit Februar nennt das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) die Versorgung mit Medikamenten «problematisch» . Die Situation habe sich nicht wesentlich verändert, sagt BWL-Sprecherin Françoise Tschanz auf Anfrage. Kritisch seien die Lage insbesondere bei Antibiotika und starken Schmerzmitteln. Die notorischen Lieferprobleme bei Generika sei ein globales Problem mit globalen Ursachen. «Eine engere Zusammenarbeit gerade mit der EU wäre wünschenswert.»