Tamara Funiciello (32) eckt gern mal an. Nachdem die Berner SP-Nationalrätin nach der verlorenen AHV-Abstimmung bei einer Demo gegen die «weissen, reichen, alten Männer» schimpfte, schlug ihr auch aus der eigenen Partei Kritik entgegen. Sie sei ja damals verantwortlich dafür gewesen, dass die bessere Rentenreform 2020 gescheitert sei, warfen ihr Fraktionskollegen vor. Und in der Westschweiz heisst es, die SP müsse «den Reichen den Krieg erklären, nicht den alten weissen Männern», von denen einige selbst nicht über die Runden kämen. Im Interview mit Blick äussert sich Funiciello nun zu diesen Vorwürfen.
Frau Funiciello, ab welchem Gehalt und ab welchem Alter ist man in der Schweiz «reich und alt»?
Tamara Funiciello: Reich ist man in der Schweiz ab einem Gehalt von 250'000 Franken pro Jahr. Was das Alter betrifft ... manche Menschen sind mit 30 Jahren schon alt! Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese Frage uns weiterführt.
Ich kann es anders formulieren. Warum haben Sie den weissen, reichen, älteren Männern den Krieg erklärt?
Das habe ich nicht. Ich sprach von einer Kampfansage. Mir geht es um folgende Frage: Wer entscheidet und warum? Die Menschen, die in unserer Welt die Macht haben, sind normalerweise reich – und meistens weiss, alt und männlich. In einer Demokratie sollte die Macht aber allen gehören. Unfaire Ungleichheiten muss man benennen, um sie zu beseitigen.
Warum greifen Sie nicht einfach die Reichen an, wie Ihr Walliser Parteifreund Valentin Aymon vorschlägt? Warum Männer, Weisse und Alte? Es gibt ja auch Frauen, die für die Erhöhung des Frauenrentenalters gestimmt haben ...
Das würde bedeuten, dass nur die soziale Klasse Einfluss auf die Lebensbedingungen hat. Wie ist es dann aber zu erklären, dass Frauen für die gleiche Anzahl von Arbeitsstunden pro Jahr 100 Milliarden Franken weniger verdienen als Männer? Weil auch das Geschlecht, die Hautfarbe und das Alter direkten Einfluss auf die Lebensbedingungen haben. Der linke Feminismus tut weh, weil er diese Privilegien benennt. Zu sagen, was ist, ist die Grundlage des linken Feminismus und des linken Diskurses im Allgemeinen! Und wenn mein Parteikollege meine ganze Rede gehört hätte, hätte er gewusst, dass ich auch rechte Frauen kritisiert habe.
Haben Sie keine Privilegien?
Im Vergleich zu anderen habe ich als weisse Cis-Frau Privilegien, die eine schwarze Transperson nicht hat. Ich bin eine lesbisch lebende, weisse Frau mit Schweizer Pass, einer Mutter, die Kassiererin ist, und einem Vater, der Arbeiter ist. Das kann ich nicht ändern, aber ich kann entscheiden, mich mit Menschen zu solidarisieren, die andere Formen der Unterdrückung erleben. Das erfordert eine gewisse Selbstreflexion. Und man muss sich für die Schwierigkeiten interessieren, die andere Menschen haben können – einfach aufgrund dessen, wer sie sind und woher sie kommen. Das macht die Welt zu einem besseren Ort.
Können Sie verstehen, dass sich weisse Männer von Ihrer Rede angegriffen fühlten?
Wir diskutieren gerade ausführlich über die Schwierigkeiten, ein weisser Mann zu sein, während gleichzeitig in Zürich Neonazis eine Dragqueen-Show für Kinder angreifen und niemand sich rührt. Wenn man nicht männlich, nicht weiss, nicht reich, nicht cis-geschlechtlich oder hetero ist, erfährt man Gewalt, nur weil man ist, wer man ist. Das ist ein statistischer Fakt.
Sie bekämpfen jede Art von Diskriminierung. Aber wenn Sie sich auf eine so spezielle Bevölkerungsgruppe konzentrieren, reproduzieren Sie dann nicht die Mechanismen, die Sie anprangern?
Männer werden nicht diskriminiert, weil sie Männer sind. Ich wiederhole das gern 45 Mal: Niemand wird körperlich angegriffen, weil er ein weisser, alter und reicher Mann ist, das kann ich Ihnen versichern. Im Gegensatz dazu wurden in der Schweiz bereits 430'000 Frauen vergewaltigt und alle anderthalb Wochen stirbt eine Frau in ihren eigenen vier Wände durch Gewalt vom Partner oder Expartner.
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Gibt es in der SP einen Graben zwischen dem Gewerkschaftsflügel, für den die Arbeiterbewegung Priorität hat, und dem feministischen, antirassistischen und Transphobie-Flügel?
Nein. Die überwiegende Mehrheit hat verstanden, dass wir als SP Partei ergreifen gegen oben, gegen Unterdrückung, gegen Gewalt und Ungerechtigkeit. Und zwar ganz konkret. Unsere Initiative zu den Kinderkrippen zeigt dies deutlich. Das würde von den Reichen finanziert, aber kommt den Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen und den Frauen zugute. Den Klassenkampf zur obersten Priorität zu machen, bedeutet, zu einer Linken zurückzukehren, die die verschiedenen Realitäten, die unter anderem durch das Geschlecht bestimmt werden, zu ignorieren. Eine Frau zu sein bedeutet, im Leben und auf der Arbeit eine andere Lebensrealität zu erleben als Männer. Der erste Schritt, um das zu ändern, ist, das anzuerkennen. Im Grunde ist es mir egal, ob es 50 Prozent der CEOs weiblich sind. Mein Kampf gilt der Kassiererin, die nicht genug verdient, Migrationserfahrung hat, die alleinerziehend ist.
Die SVP versucht, den Kampf gegen den «Woke-Wahnsinn» als Wahlkampfthema durchzusetzen. Spielen Sie ihr mit solch radikalen Positionen nicht in die Hände?
Was ist «Woke-Wahnsinn»? Wenn es darum geht, Sicherheit, Rechte und ein gutes Leben für alle Menschen zu wollen, dann bin ich woke. Es geht darum, dass man Frauen nicht mehr tötet, weil sie Frauen sind, dass man gleichen Lohn für gleiche Arbeit zahlt – ist das so absurd? Und dann wird man wütend, weil ich wütend bin, wenn wir nicht vorankommen? Ich habe jedenfalls keine Lust mehr, wie ein braves Mädchen zu lächeln.