Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht (74) erkennt zwei neue Bewegungen des politischen Moralismus: die Gleichheits- und die Nachhaltigkeitsaktivisten. Sie gewinnen immer mehr Einfluss in Öffentlichkeit und Staat. Zugleich radikalisieren sie sich. Gumbrecht beschreibt sie im Gespräch als verirrte Kinder der Aufklärung – und reagiert trotz allem mit Gelassenheit.
Blick: Herr Gumbrecht, kurz und knackig: Was ist eigentlich Moral?
Hans Ulrich Gumbrecht: Was wir «Moral» nennen, bezieht sich auf die Tatsache, dass es Normen des Verhaltens und Handelns unter Menschen gibt. Und diese Normen sind in den Gesellschaften, in denen wir leben, tendenziell, für alle verbindlich: Du sollst nicht morden. Du sollst nicht lügen. Du bekleidest dich, wenn du das Haus verlässt. Du gibst deinem Gegenüber bei der Begrüssung die Hand. Wer sich daran hält, handelt, wie wir immer noch sagen: «gesittet». Wer dagegen verstösst, nun ja, der hat ein Problem.
Jemandem nicht die Hand zu geben, ist per se unmoralisch?
In einigen westlichen Kulturkreisen, nicht in England oder in den Vereinigten Staaten, gilt ausgerechnet das als übergriffig. Das Händeschütteln ist dort eine bewährte, jahrhundertealte Praxis. Wer es verweigert, erweckt den Eindruck, damit seinen Vorbehalt oder seine Ablehnung gegenüber dem anderen auszudrücken, zum Beispiel ein muslimischer Vater gegenüber einer Lehrerin in der Schweiz. Und die moralische Ahndung folgt jeweils reflexartig: Es wurde – habe ich gelesen, allerdings vor der Pandemie – dann in Schweizer Medien mitunter eine Verpflichtung zum Händeschütteln gefordert.
Andere Länder, andere Sitten – aber keine Gesellschaft ohne Sitten und Moral.
Es gibt keine Moral, die unter allen gesellschaftlichen Bedingungen zu allen Zeiten für alle gegolten hat. Moral ist immer kulturabhängig. Doch die Existenz einer je verschiedenen Moral gehört zur menschlichen Natur – ohne sittliche Normen, die für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gelten, ist menschliches Zusammenleben nicht denkbar. Ohne Moral bedrohte beständig Gewalt unsere gesellschaftlichen Beziehungen.
Hans Ulrich Gumbrecht (74) ist emeritierter Professor für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford-Universität in Kalifornien, Professor für romanische Literaturen an der Hebräischen Universität Jerusalem und Autor zahlreicher Bücher, zuletzt «Provinz. Von Orten des Denkens und der Leidenschaft» (zu Klampen, 2021) und «Prosa der Welt. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung» (Suhrkamp, 2020). Dieses Jahr wurde dem gebürtigen Deutschen die Ehrendoktorwürde der Universität Madrid verliehen. Er nimmt regelmässig zu gesellschaftspolitischen Themen Stellung.
Hans Ulrich Gumbrecht (74) ist emeritierter Professor für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford-Universität in Kalifornien, Professor für romanische Literaturen an der Hebräischen Universität Jerusalem und Autor zahlreicher Bücher, zuletzt «Provinz. Von Orten des Denkens und der Leidenschaft» (zu Klampen, 2021) und «Prosa der Welt. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung» (Suhrkamp, 2020). Dieses Jahr wurde dem gebürtigen Deutschen die Ehrendoktorwürde der Universität Madrid verliehen. Er nimmt regelmässig zu gesellschaftspolitischen Themen Stellung.
Was ist nun aber der Moralismus, den manche beklagen, aber kaum jemand genau zu fassen vermag?
Hier findet derzeit eine bemerkenswerte Steigerung statt, die zweifellos auch mit den technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters zu tun hat: Moralismus ist eine Radikalisierung des Sittenwächtertums, die sich weniger auf Handlungen als auf blosse Äusserungen von Menschen bezieht. Es geht primär um Worte, die in sozialen Medien geäussert werden. Moralisten haben es darauf abgesehen, Menschen aus der Diskursgemeinschaft auszuschliessen. Sie stören sich nicht erst am Inhalt von Ansichten, sondern empören sich darüber, dass jemand diese Ansicht überhaupt zu äussern wagt.
Wenn zum Beispiel eine deutsche Biologin über menschliche Zweigeschlechtlichkeit referieren will, tun Genderaktivisten ihre Empörung in den sozialen Medien kund. Und die Uni in Berlin bekommt kalte Füsse und cancelt den Vortrag.
Der Ablauf ist immer ähnlich: Die Moralapostel unterstellen, meistens faktenfrei, eine Menschenfeindlichkeit, im konkreten Fall: eine Queer-Feindlichkeit. Diese Feindlichkeit belegen sie nicht, sondern behaupten sie einfach. Die Botschaft zwischen den Zeilen: Menschenfeinde sind Unmenschen – sie müssen mundtot gemacht, isoliert, aus der Gemeinschaft satisfaktionsfähiger Mitmenschen ausgeschlossen werden. Und die zweite Botschaft, ohne Worte an alle gewandt: Jeden, der sich mit ihnen solidarisiert, wird dasselbe Schicksal ereilen.
Shitstorms werden überschätzt, gerade Unis sollten sich davon nicht unter Druck setzen lassen. Hochschulen sind Orte des freien Forschens und Denkens, einzig der Erkenntnissuche verpflichtet. Und wer sagt denn, dass die Wahrheit nicht auch schmerzen kann?
Die neuen sozialen Medien entfalten eine uralte Dynamik, die wir aus den Stammesgesellschaften kennen: Unliebsame Menschen werden geächtet und an den Pranger gestellt. Der soziale Tod ist natürlich brutal – und wer sich davor fürchtet, neigt zur panischen Überreaktion, so mittlerweile auch die Vertreter der altehrwürdigen Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Reaktion war wohl überzogen. Denn natürlich sind die meisten Shitstorms bloss ein Sturm im Wasserglas: Ein paar Tugendaktivisten empören sich in den sozialen Medien, die klassischen Medien ventilieren den Skandal, und es entsteht der Eindruck, der nächste Mob sei schon unterwegs. Aber glücklicherweise trügt der Eindruck meistens.
Der Philosoph Hermann Lübbe hat schon vor vielen Jahren auf ein Merkmal des neuen politischen Moralismus hingewiesen: die Verachtung des gesunden Menschenverstands. Moderne Moralisten sagen: Wenn ihr euch nur an eure bewährten Sitten und Gebräuche haltet, wird die Welt irgendwann vor die Hunde gehen – wacht endlich auf!
Lübbe ist ein kluger Kopf und trifft einen Punkt. Die neuen Moralisten halten sich oft für Erleuchtete, die mehr begriffen haben als der Rest der Menschheit, als das gemeine Volk. Sie pflegen eine äusserst anstrengende Hochmoral vor allem in zwei Belangen: Gleichheit und Nachhaltigkeit. Nennen wir sie deshalb die beiden Gruppen der sozialdemokratistischen und der ökologistischen Moralisten – der «Ismus» soll darauf hindeuten, dass sie Ideologien vertreten, deren Inhalte weit über das wissenschaftlich Beleg- und Vertretbare hinausgehen.
Das heisst?
Die Sozialdemokratisten, es geht mir hier nicht um Parteien, sondern um eine weitverbreitete Werthaltung, wollen Ergebnisgleichheit in allen gesellschaftlichen Belangen um jeden Preis. Ihre Instrumente sind Umverteilung, Quoten, Bevorzugung, also positive Diskriminierung. Die heute existierende Wirtschaft kann dabei in ihren Augen gerne vor die Hunde gehen. Und den Ökologisten geht es um die Erhaltung der Natur, ebenfalls um jeden Preis – Menschen und ihre Bedürfnisse werden sekundär. Die besondere Entwicklung in Europa besteht nun darin, dass sich die staatlichen Institutionen weitgehend den Moralismus der selbst ernannten Elite zu eigen gemacht haben. Der ideale Bürger im Auftrag seines Staates trennt den Müll, arbeitet Teilzeit, ist ebenso kapitalismus- wie konsumkritisch, isst vegan und lebt gesund, findet alle Exzellenzinitiativen ganz schlimm, fährt ein Elektroauto und verkündet voller Stolz, seine besten Freunde, vor allem die besten Eltern, die er je gesehen habe, seien transsexuell.
Das ist in den USA anders?
Moral und Moralismus gelten in den USA eher als Gegenstände und Lebensbereiche der privaten Wahl, ebenso wie die Religion. Und privat heisst: der Staat soll sich nicht einmischen. Natürlich wird unter zivilgesellschaftlichen Gruppen auch hart über Ökologie und Genderfragen gestritten, darüber schreiben ja die europäischen Medien wie besessen, aber der Staat hält sich weitgehend aus solche Debatten heraus – oder reagiert sehr spät. Er sieht sich als eine Instanz der Ermöglichung, weniger als quasi-moralische oder moralistische Instanz, wie es zunehmend in Europa der Fall ist.
Sie sprechen von zwei moralistischen Bewegungen: Die eine will zurück zur Stammesgesellschaft und die andere zurück zur Natur. That's it?
Ja, so könnte man Moralismus beschreiben. Die sogenannten Progressiven verfolgen eine ziemlich rückwärtsgewandte Agenda, insofern sie für weniger Differenzierung eintreten und dies im schrillen Ton der Hochmoral tun. Konkret: Erinnert man an die Wirtschaft als Garant des Wohlstands, wird man sofort als böser Kapitalist und Ausbeuter hingestellt. Erinnert man an die Freuden des Lebens, an Genuss und Intensität, gilt man als Zyniker und Menschenverächter. Moderne Moralisten sprechen stets im Namen der ganzen Menschheit – und erklären alle zu Unmenschen, die ihre Ansicht nicht teilen. Das ist ein in diesem Zusammenhang zentraler Mechanismus.
Da hilft auch Streiten nichts?
Nein. Denn in den Augen der Moralisten scheint ja die Ansicht weniger das Problem zu sein als vielmehr die Person, die sie vertritt, nach dem Motto: Gäbe es keine Leute wie dich, du zynischer Kapitalist, dann würden wir längst in einer gleichen und nachhaltigen Gesellschaft leben.
Ist das nicht eine Zerrform der politischen Hochmoral, die Sie hier anbieten?
Ich versuche, klar und deutlich zu reden. Was ich schildere, ist die Wiederauflage des utopischen Denkens im neuen Gewand des Moralismus: Gäbe es keine schlechten Menschen, wäre die Gesellschaft gut. Also schaffen wir den neuen Menschen – und wir Moralisten helfen, ihn zu erziehen! Das klingt ja für viele erst einmal überzeugend.
Können Sie ein konkretes Beispiel aus dem Alltag nennen?
Gehen wir in den amerikanischen Alltag, um den Eindruck zu vermeiden, dort gebe es keine Hochmoral. Ich rauche eine Zigarette auf dem Campus von Stanford. Das darf man immer noch, die Universität hat das nicht untersagt. In meiner Nähe ist eine Mutter mit ihrem Kind, und was tut sie? Sie zeigt auf mich, als wäre ich ein Dinosaurier, ein eigenartiges Tier, das nicht mehr zur Menschheit gehört. Die Kinder sollen nicht in meine Nähe kommen – wohl nicht nur wegen des Rauchs, sondern weil ich geradezu ein Mensch mit schlechter Ausdünstung bin.
Ich würde ebenfalls mit allen Mitteln verhindern wollen, dass meine Kinder mit dem Rauchen beginnen.
Das ist nicht der Punkt – Rauchen ist natürlich eine nicht harmlose Sucht, das ist mir auch klar, aber ich bin schon viel zu alt, um es mir abzugewöhnen. Der Punkt ist: Die Rauchgegner finden mich weniger unvernünftig, sie sehen mich als moralisch defizitär an. Sie schauen auf mich herab. «Then shame on you», sagte mir letzte Woche ein Mann meines Alters vor dem Bibliotheksgebäude, nachdem ich ihm klargemacht hatte, dass ein Rauchverbot nicht existiere. Ich trage das mit Fassung, aber dieser Unterschied ist für eine Analyse wichtig.
Ist der Moralismus immer linksgerichtet oder gibt es auch rechtslastige Erscheinungsformen?
Ich denke, der moderne Moralismus ist eher ein linkes Phänomen. Warum? Weil er, nach einer Definition von Gilles Deleuze, immer vom Horizont der Menschheit her denkt – nicht vom Individuum oder von der eigenen Gruppe oder Gesellschaft her, wie es die Rechten eher tun. Rechte Positionen behaupten die angebliche Überlegenheit der einen Gruppe oder Ethnie über andere: die Überlegenheit der Arier, der Weissen, der Christen. Im linken Moralismus hingegen geht es um ein Reden und Handeln im Namen der ganzen Menschheit, was bedeutet, dass die Ausgeschlossenen dann auch den Status von Menschen verlieren.
Wie würden Sie den Moralismus also historisch verorten?
So überraschend das zunächst klingen mag: Er ist ein langfristiges Erbe der Aufklärung. Denn der Diskurs der Aufklärung war wohl der erste, der konsequent im Namen der gesamten Menschheit sprach – und nicht mehr im Namen der Christenheit, zum Beispiel. Diese Verabsolutierung ist entscheidend. Als Konsequenz glauben Aufklärer an die Möglichkeit der moralischen Vervollkommnung des Menschen, genauso wie heute die Moralisten.
Aber die Aufklärer setzten auf Vernunft, Toleranz und Demokratie – nicht auf Erziehung von oben.
Zunächst, aber dann begriffen sie sich bald als Elite, die mit ihrem Licht andere erleuchten musste. Und sie haben eine politische Macht erfunden, die angeblich im Namen der Menschheit handelte. Moralisten sind radikalisierte Aufklärer, die alle Hemmungen verloren haben. Sie erinnern mich an die zweite Phase der französischen Revolutionäre.
Wie genau?
Schematisch gesprochen: 1789 treten noch vor der Revolution die Generalstände zusammen, erster, zweiter und dritter Stand. Es ist eine weitgehende neue Inklusion, alle Vertreter der Generalstände sollen gleichwertig sein. Der Graf Mirabeau will nicht mehr gelten als ein Bürger – Bauern freilich waren als nicht existierender «vierter Stand» noch ausgeschlossen. Aber schon 1793 war alles bis zu maximaler Strenge gesteigert. Die Gleichheitsfanatiker wurden zu Tugendterroristen: Robespierre praktiziert mit der Guillotine die extremste Politik des Ausschliessens – wer nicht spurt, wird geköpft, weil er nicht mehr zur Menschheit gehört. Und weil Revolutionen ihre Kinder fressen, ist es nur logisch, dass Robespierre selbst irgendwann geköpft wird. Diesen Furor des Tugendhaften sehen wir heute wieder aufleben, nicht mit physischer, aber mit psychischer Konsequenz. Der neue Tugendterror ist Psychoterror.
Es ist die paradoxe Dialektik aller gesellschaftlichen Dynamiken: Am Ende produziert jede Inklusion auch Exklusion, jeder Einschluss Ausschluss – nämlich den Ausschluss all jener, die die Lehre oder Ideologie des Einschliessens nicht teilen.
Jede Vollinklusion scheint eine Überforderung zu sein, so wünschenswert sie ja eigentlich ist, irgendwann kippt sie, weil menschliche Gesellschaften anscheinend ohne einen Gegenpol der auszuschliessenden «anderen», der auszuschliessenden «Minderheit» nicht existieren können. Ich befürchte, dass ohne solche Gegenpole Gefühle von Gemeinschaft und Solidarität kaum entstehen können. Wir gestehen uns dies nicht gerne ein, aber so verhält es sich wohl, seit es Menschen gibt. Die Cancel Culture ist nichts Neues, sondern alt und – leider – bewährt. Darauf sollten wir nicht stolz sein, im Gegenteil, wir sollten als Gesellschaft daran arbeiten, möglichst inklusiv zu sein. Aber die totale Inklusion bleibt eine Utopie mit bedrohlichen Risiken und Nebenwirkungen.
Wird der grassierende Moralismus explodieren und an Intensität zunehmen – oder wird er demnächst implodieren und verschwinden?
Falls die Freiheitspotenziale der Menschen bei gleichbleibendem oder sogar steigendem Wohlstand weiter zunehmen, wird auch der gleichheits- und nachhaltigkeitsfixierte Moralismus an Macht und Stärke zulegen. Es könnte sein, dass wir uns erst am Anfang einer Entwicklung befinden, die uns noch jahrelang beschäftigen wird.
Wie reagieren Sie, wenn Ihre Kinder oder Enkelkinder Sie tugendterroristisch traktieren und für das Elend der Welt verantwortlich machen?
Wenn es vorkommt, was nicht oft der Fall ist, versuche ich, gelassen zu bleiben – ich bin nun 74 Jahre alt und insofern ein Auslaufmodell. Lebenspraktisch habe ich mich in vieler Hinsicht an die amerikanischen Modalitäten der sozialdemokratistischen Lebensweise angepasst, weil ich ja nicht ständig anecken will. Intellektuell hingegen äussere ich mich immer gerne ungemütlich. Da möchte ich ein Stachel im Fleisch der Gutmenschen und Tugendterroristen sein.
Mit dieser Spaltung leben Sie gut?
Ich nehme halt die Position eines Beobachters ein, dabei wird mir garantiert nicht langweilig. Und zugleich sehe ich, wie sich das Leben der Jüngeren entwickelt.
Interviewer René Scheu ist Philosoph, Blick-Kolumnist und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.