Auf einen Blick
Sonntagabend kurz nach 18 Uhr an der Klingelhöferstrasse in Berlin. Nur noch wenige Polizeiabschrankungen trennen uns vom Konrad-Adenauer-Haus, der Zentrale der Christlich Demokratischen Union. Etwas ist seltsam. Die kreischenden Mädchen und jungen Frauen hinter uns entsprechen so gar nicht dem Menschenschlag, den man an einer CDU-Wahlparty erwartet. Und wieso dieses Freudengeschrei?
Bald klärt sich die Sache. «Wir wollen zur Demo!», rufen die jugendlich Ausgelassenen den Uniformierten zu. «Die ist gleich da drüben», antwortet ein Freund und Helfer, worauf sich die Nachwuchsdemonstrantinnen artig bedanken. Auf der anderen Strassenseite hält die Antifa eine Kundgebung gegen die Partei von Spitzenkandidat Friedrich Merz (69) ab; irgendwas mit «Faschismus» ist auf dem Transparent zu lesen.
Die Ordnungshüter hüten eine Ordnung nach sehr deutscher Manier: Man zieht einander die Moralkeule über, aber jeder bleibt bitteschön dort, wo er hingehört. Die Demokratie als staatlich kultivierter Menschengarten.
Warten wie auf einen Popstar
Nun ist auch der Grund für das Frohlocken der Damen in Schwarz offensichtlich: Es ist das Wahlresultat der Linken, das mit der ersten Hochrechnung um 18 Uhr bekannt geworden war. Verblüffende 9 Prozent erreicht die SED-Nachfolgepartei mit ihrer schrillen Frontfrau Heidi Reichinnek (36), von der die deutsche Öffentlichkeit wohl noch viel hören wird.
Ganz so viel Begeisterung herrscht im Konrad-Adenauer-Haus nicht, wo sich Parteivolk, Funktionäre und Medien aus der ganzen Welt versammelt haben. «So viele wie noch nie», wird Merz später sagen. Eine israelische TV-Reporterin interviewt zwei Burschen von der Jungen Union, ein CNN-Korrespondent gibt eine erste Einschätzung zum Besten, und im Helmut-Kohl-Saal im ersten Stock haut eine niederländische Journalistin ihre Beobachtungen ins Notebook. Über der bronzenen Büste des Kanzlers der Einheit, der Deutschland 16 Jahre lang regiert und die CDU danach in eine Krise gestürzt hat, dreht sich ein müder französischer Agenturvertreter eine Zigarette.
Im Erdgeschoss scharen sich die Besucher um die Bühne und warten auf den Auftritt der Parteiprominenz wie Fans auf ihren Popstar. Es gibt Brezel und Chili con Carne, Bier (Beck’s) und vorzüglichen Wein aus der Pfalz (Riesling trocken und Grauburgunder).
Anhänger hofften auf 30 Prozent
Der allgemeine Promillepegel steigt. Ernüchternd sind nur die 28 Prozent Wähleranteil, die die Union an diesem Sonntag erzielt. Es ist das zweitschlechteste Resultat ihrer Geschichte. «30 hätten es schon sein müssen», sagt eine Dame mittleren Alters zu ihrer Kollegin. Ausgelassen präsentieren sich einzig die Mitglieder der Jungen Union, die mit «Merz 2025»-Pullovern angereist sind.
Der Dämpfer ist hausgemacht; unnachgiebig wurde der Öffentlichkeit die Erzählung von der «Richtungswahl» und der «Schicksalswahl» und dem «Wendepunkt» eingehämmert. Dieses Pathos ist den Schweizern fremd. Mit gutem Grund: In Deutschland zementieren die Wähler alle vier Jahre unwiderruflich die politische Machtverteilung. Nach dem Urnengang hat die Bevölkerung keinerlei direkte Korrekturmöglichkeiten auf nationaler Ebene mehr, wie sie hierzulande mittels Referenden und Volksinitiativen zur Verfügung stehen.
Dann bricht Jubel aus. Da tritt er aufs Podest, Friedrich Merz, umgeben von seiner Entourage, neben ihm CSU-Chef Markus Söder (58), sein einstiger Kontrahent im internen Rennen um die Kanzlerkandidatur.
Die Brandmauer erfordert ihren Preis
Jetzt wird auf Versöhnung umgeschaltet. Merz bedankt sich bei seinen Mitstreitern, witzelt über seine «Rambo Zambo»-Aussage, die Kult geworden ist, und kokettiert mit der deutschen Tüchtigkeit («ab morgen wird gearbeitet!»).
Was geht ihm jetzt wohl durch den Kopf, wenn er in die Menge blickt? Denkt er womöglich an seine ewige Fehde mit Angela Merkel (70), die ihn einst intern kaltgestellt hat und ihm noch im Endspurt des Wahlkampfs mit der Kritik an zu viel AfD-Nähe in den Rücken gefallen ist? Die tiefe Genugtuung des Triumphs scheint ihm in diesem Moment ins Gesicht geschrieben.
Derweil stellt sich der Ex-Widersacher aus Bayern demonstrativ hinter den Spitzenkandidaten. «Die Bevölkerung hat ein klares Signal ausgesendet; Friedrich Merz ist unser Kanzler!», ruft Söder. An diesem Abend ist kein Platz für Unangenehmes, keine Rede ist von der AfD, die sensationelle 20 Prozent gemacht hat und nun die zweitstärkste Kraft in der deutschen Politik ist. Es wird auch kein Wort über die Frage verloren, wie die Konservativen die «Wende» vollziehen wollen, wenn sie auf die Sozialdemokraten angewiesen sind. Die «Brandmauer» erfordert ihren politischen Preis.
«Volksparteien» und «Sammelbecken»
Es lasten viele Hoffnungen auf Friedrich Merz. Er wird als Kanzler eine Politik ablösen müssen, die viel zu lange der migrationspolitischen Misere zuschaute, das Erstarken der AfD mitverantwortet und die europäische Wirtschaftslokomotive Deutschland zum Stillstand gebracht hat.
Merz ist Mitglied der Studentenverbindung Bavaria Bonn (Leitspruch «In fide firmitas!», «In Treue fest!»). Aber von Sturm und Drang ist nicht allzu viel zu spüren. Kann der ehemalige Stadler-Rail-Verwaltungsrat aus dem Sauerland der starke Mann Europas werden? Wird es Merz mit dem Bulldozer aus Washington aufnehmen können? Der französische Präsident Emmanuel Macron hat es letzte Woche vorgemacht: Er umarmt den US-Präsidenten Donald Trump (78) als Freund, aber greift ihm beim Medienanlass aufs Knie und massregelt ihn beim Thema Ukraine.
Vor allem aber muss sich der künftige Regierungschef unseres nördlichen Nachbarlands mit einer dramatisch veränderten politischen Ordnung im Inland auseinandersetzen; das politische Spektrum wird mittlerweile in eine Hierarchie aus «Volksparteien» und «Sammelbecken» eingeteilt, wobei Letztere Erstere «Altparteien» nennen.
Die AfD wird Merz das Leben schwer machen
Zur ersten Gruppe gehören die Formationen mit langer Geschichte; dass der Wähleranteil der SPD mit 16 Prozent pulverisiert worden ist, hält sie nicht vom Etikett Volkspartei ab. Zu den anderen gehören die neueren Formationen wie AfD, Linke und BSW. Dann gilt man, je nachdem, als Sammelbecken für Populisten, Faschisten, Kommunisten, Rassisten, Putinisten, Pazifisten, Bellizisten und wie die gängigen Kampfbegriffe alle noch heissen.
Das Land des deutschen Idealismus und der Kantschen Idee vom «ewigen Frieden» befindet sich auf Talfahrt. Die bundesrepublikanische Nachkriegswelt ist zu einer Talkshow-Demokratie degeneriert, die im Taumel das Menetekel zu lange übersehen hat. Gewissheiten wie eine kraftstrotzende Autoindustrie, ein pulsierender Ruhrpott und teutonischer Innovationsgeist sind weggebrochen. Die USA bereiten mit 25-Prozent-Zöllen einen verlustreichen Handelskrieg vor. Unberechenbare Figuren wie Elon Musk (53), der die AfD unterstützt, befeuern den Umbruch. Die Partei von Wahlschweizerin Alice Weidel (46), so viel steht fest, wird dem neuen Regierungschef in Berlin die nächsten vier Jahre nach allen Regeln der Kunst das Leben schwer machen.
«Macht ihr Schweizer da bloss nicht mit!»
Ob Friedrich Merz diese Zeichen der Zeit erkannt hat, bleibt offen. Verdächtig viel Bonner Ambiente ist an diesem Abend im Konrad-Adenauer-Haus, dieser Kathedrale bundesrepublikanischer Nachkriegsgeschichte, zu spüren. Die Feier in der CDU-Zentrale wird zum Totentanz für eine politische Realität, deren Tage gezählt sind.
Davon lässt sich Kai nicht den Spass verderben. Der CDU-Kommunalpolitiker ist Mitte zwanzig. Er stammt aus einer polnischen Familie, ist Mitglied der Schweizer Freikirche ICF und kommt aus einem 2000-Seelen-Dorf in Sachsen. «Bei uns wählen 70 Prozent die AfD», sagt er. Ja, Neonazis gebe es dort auch, aber das seien «Loser». Dann kriegt Kai leuchtende Augen, als er erfährt, dass er einem Gast aus der Schweiz gegenübersteht. «Alle, die ich kenne, wollen zu euch!», sagt er. Und er lobt die «NZZ», die «einzige Zeitung, die bei uns die Wahrheit schreibt», womit er auf den stramm regierungs- und migrationskritischen Kurs des Zürcher Mediums anspielt.
Im südlichen Nachbarland werde man «schnell reich», weiss Kai. Und er hat auch noch einen Ratschlag: «Ich bin für ein starkes Europa, heute umso mehr. Aber macht ihr Schweizer da bloss nicht mit!»
Der junge Mann hat für heute genug politisiert. Er nimmt sich noch eine Flasche Bier und geht in Richtung Tanzfläche. Jetzt gibt es Beats von DJ Cooper. Und eine Band baut ihr Equipment auf. Die Party geht erst richtig los. Gegenüber bei der Demo ist es mittlerweile still geworden.