Es klingt wie der Königsweg beim guten Wählen. Man klickt sich durch 75 Fragen, schon weiss man, welche Partei und welche Kandidatinnen man in den National- und Ständerat wählen soll. 500’000 Personen haben vor vier Jahren diese Abkürzung via Smartvote genommen, diesen Herbst dürften es noch mehr werden.
Natürlich gibt es diese Kritik an Smartvote. Die Plattform sei zu mächtig, die Fragen seien nicht immer neutral. Moniert hat das zuletzt der Zürcher FDP-Nationalratskandidat Peter Metzinger. Die vierte Frage – sie betraf sein Fachgebiet Pensionskassen – war seiner Meinung nach «völlig falsch» gestellt; für ihre Beantwortung spielte das aber keine Rolle.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Für Metzinger jedoch war es der Beweis, dass Smartvote Schlagseite hat. Und den Lesenden der NZZ, in der er seinem Ärger wortreich Luft verschaffte, ist sein Name seither etwas geläufiger.
Selbstverständlich machen auch bei Smartvote nicht alle Kandidierenden mit, aber rund 85 Prozent von ihnen sind ein sehr guter Wert. Schwergewichte wie SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi und Mitte-Präsident Gerhard Pfister haben verzichtet – sie können sich das leisten.
Smartvote ist wie Parship. Man findet dort seinesgleichen: jene mit der gleichen Meinung. «Die Passenden sind aber womöglich die Falschen, weil sie entweder null Chancen haben oder sicher gewählt werden», sagt Lukas Golder vom Meinungsforschungsinstitut GFS Bern. «Im besseren Fall vergibt man sich die Chance, mitzubestimmen, wer nach Bern geht. Im schlechteren bleibt die Stimme wirkungslos oder geht an die Falschen.»
Klingt nachvollziehbar, aber ist das mehr als die Theorie eines übermotivierten Politologen?
Oft entscheidet eine Handvoll Stimmen
Die Analyse der letzten Nationalratswahlen für die Kantone Zürich, Bern und Luzern, die GFS Bern für den Beobachter erstellt hat, legt nahe: Der Politologe liegt goldrichtig. Überraschend oft entscheidet nur eine Handvoll Stimmen über Wahl oder Nichtwahl.
Zum Beispiel im Fall von Claudio Zanetti, der vor vier Jahren auf dem dritten Ersatzplatz der Zürcher SVP-Liste landete und abgewählt wurde. Als Parteikollege Hans-Ueli Vogt Ende 2021 aus dem Nationalrat zurücktrat, erbte nicht er den Sitz, sondern Benjamin Fischer. Zanetti hatte 108’831 Stimmen bekommen, Fischer 55 Stimmen mehr. Ein zweiter Rücktritt hätte Zanetti ebenfalls nichts gebracht: Martin Hübscher lag 23 Stimmen vor ihm.
Auch der Berner Gewerkschafter Corrado Pardini weiss, was ein knapper Wahlausgang ist. Der SP-Mann übertraf Parteikollegin Tamara Funiciello um satte 432 Stimmen, ins Parlament zog trotzdem nur sie ein – dank dem Restmandat, das an die SP-Frauenliste ging.
Listenverbindungen als Goldgrube
Auch Parteien erobern manchmal Sitze, die ihnen aufgrund ihrer Wählerstärke kaum jemand zugetraut hätte. So geschehen im Kanton Luzern, wo SP, GP und GLP eine Listenverbindung eingegangen waren. Die Allianz holte drei Sitze, jede Partei erhielt einen. Und das, obwohl die SP 41 Prozent der Stimmen der Listenverbindung geholt hatte und die GLP nur 21 Prozent. Die Luzerner FDP hatte mit der Listenverbindung mit der CVP (heute: Die Mitte) noch besser paktiert: Mit 62 Prozent der Stimmen eroberte sie drei der vier Sitze der Allianz, auch wenn die übrigen 38 Prozent zur CVP gehörten.
Für Wählerinnen und Wähler bedeuten derart knappe Entscheidungen: Wenn sie ihre Stimme geschickt einsetzen, sind sie manchmal das Zünglein an der Waage. Politologe Golder sagt deshalb: «Smartvote mag der Königsweg für Wählerinnen und Wähler sein. Wenn sie ihre Stimme aber an Chancenlose oder Unbestrittene vergeben, erzielen sie weniger Wirkung, als möglich wäre.» Denn die Richtigen sind manchmal die Falschen.
Smart wählen funktioniert laut Golder vor allem in Kantonen gut, die eine gewisse Grösse haben. Die Grenze liege bei rund 7 Sitzen, hat seine Analyse ergeben. Bei den Wahlen vom 22. Oktober fallen elf Kantone darunter: Zürich (36 Sitze), Bern (24), Waadt (19), Aargau (16), Genf und St. Gallen (je 12), Luzern (9), Tessin und Wallis (je 8), Freiburg und Basel-Landschaft (je 7).
Es reicht auch in diesen Kantonen nicht, nur geschickt zu panaschieren und zu kumulieren, um seiner Stimme möglichst viel Gewicht zu verleihen. Das erreicht man, wenn man sich bei der Suche nach den richtigen Kandidatinnen und Kandidaten an vier Regeln hält – und einen Sonderfall berücksichtigt:
- Regel 1:Nur Kandidaturen mit echten Chancen wählen. Das sind rund zehn Prozent, also 500 der deutlich mehr als 5000 Politikerinnen und Politiker, die sich zur Wahl stellen. Man findet sie meist in der oberen Hälfte der Parteilisten. Sie sind auch eher präsent in redaktionellen Medien.
- Regel 2:Sich auf Neue beschränken. Bisherige sind sogar im Vorteil, wenn sie in Bern blass geblieben sind. Sie zu wählen, lohnt sich nur, wenn man eine Nichtwahl als grossen Verlust empfindet. Bei Kandidatinnen und Kandidaten, die auf der Liste direkt hinter Bisherigen stehen, muss man eine Studie der Hochschule St. Gallen im Hinterkopf haben: Ihre Wahlchancen sind leicht schlechter als von jenen, die weiter unten im Mittelfeld figurieren.
- Regel 3: Das Milieu abchecken. Am besten funktionieren: jung, weiblich, bäuerlich und urban. Wenn man eine bürgerliche junge Bäuerin oder eine linke urbane Frau mit Pflegeberuf wählt und gleichzeitig ältere Juristen und Staatsangestellte streicht, ist der Effekt am grössten.
- Regel 4: Favoriten streichen. Sehr Bekannte wie 2019 Roger Köppel in Zürich und Albert Rösti in Bern schaffen die Wahl ohnehin. Wenn man sie wählt, geht die Stimme an ein anderes Mitglied ihrer Partei – und man vergibt sich die Chance, mitzubestimmen, wer das sein wird.
- Sonderfall: Sympathiestimmen für Chancenlose. Bei Wahlen geht es immer um die Zukunft. Das schliesst auch die Wahlen in vier Jahren mit ein. Wenn man seine Stimme Personen gibt, deren Politstern erst am Aufgehen ist, werden sie in vier Jahren von ihrer Partei vielleicht mit einem besseren Listenplatz belohnt. Zudem signalisiert man den Auserwählten, dass sie trotz Nichtwahl weiter auf die Politik setzen sollen. Selbst zwischen Parteien und in grossen Kantonen entscheiden manchmal nur wenige Stimmen, zeigt die GFS-Analyse. Das ist dem Prinzip der Proporzwahl geschuldet: In Zürich braucht eine Partei nur 2,78 Prozent der Stimmen, um ein Direktmandat zu erringen. Es geht auch mit weniger Stimmanteilen, wenn eine Partei Listen- und Unterlistenverbindungen mit anderen Parteien eingegangen ist. Deren Stimmen werden zusammengezählt und anschliessend innerhalb der Wahlallianz verteilt.
In der Regel verbinden sich nur politisch verwandte Parteien. Manchmal aber sind die Bande etwas weniger eng, und die Parteien gehen Zweckehen ein, von denen sie sich den Gewinn eines (zusätzlichen) Sitzes versprechen. Das Problem dabei: «Viele Parteien überschätzen ihre eigenen Wahlchancen und unterschätzen das Potenzial ihrer Listenpartner. Mit dem Effekt, dass ein Teil der gewonnenen Stimmen de facto an die Konkurrenz geht», sagt Lukas Golder.
Das Spiel virtuos beherrscht hat bei den letzten Wahlen Martin Bäumle mit seiner GLP. Sie koalierte hier mit den Mitteparteien und da mit Linksgrün – und gewann prompt fünf Wackelsitze. Medien bezeichneten Bäumle in der Folge als Excel-Politiker. Laut Golder womöglich eine Fehleinschätzung. «Bäumle hat sicher gut gerechnet. Er hat aber noch besser das Wahlresultat vorausgesagt und ist mit rechnerischem Kalkül Listenverbindungen eingegangen.»
Das schlechteste Händchen hatte die SVP, die nur wenige Listenverbindungen eingehen konnte. Ihr entgingen gemäss «Tages-Anzeiger» bis zu sieben Sitze im Nationalrat. Die Partei hat daraus Lehren gezogen und geht dieses Jahr in neun (statt wie 2019 in drei) Kantonen Listenverbindungen mit der FDP ein.
Auch Wählerinnen und Wähler können Martin Bäumle spielen, wenn sie die Listenverbindungen in ihre Überlegungen einfliessen lassen. Dabei müssen sie zwei Regeln beachten:
- Regel 1: Nur Parteien mit echten Wahlchancen wählen. Stimmen an Chancenlose sind Verschwendung. Beispiel Mass-Voll: Im Aargau ist die Bewegung wohl chancenlos, die Hürde für einen Sitz liegt mit 6,25 Prozent recht hoch. Massnahmenkritiker geben ihre Stimme deshalb lieber an impfkritische SVP-Kandidaten. Im Kanton Zürich dagegen liegt die Hürde für einen Sitz bei nur 2,78 Prozent, und Mass-Voll hat sich mit EDU, Aufrecht und den Schweizer Demokraten verbündet. Impfkritikerinnen sind hier mit dem Original besser bedient.
- Regel 2: Bei Listenverbindungen genau rechnen. Beispiel GP im Kanton Luzern vor vier Jahren: Umstritten war nur der dritte Sitz, den die Listenverbindung machte. Er ging sehr knapp an die GLP. Linke Grüne hätten damals besser die SP als die eigene Partei gewählt und so verhindert, dass der dritte Sitz an die GLP ging. Rechtere Grüne hätten die GLP wählen müssen, um sicherzustellen, dass der Sitz in der Mitte landet.
Beim cleveren Wählen sind die Falschen manchmal die genau Richtigen – und die Richtigen die Falschen.