Auf einen Blick
- SEM erwartet weniger Asylgesuche und will Pendenzen abbauen
- Türkei und EU-Migrationspakt könnten Prognosen beeinflussen
- Kantone fordern schnellstmöglichen Abbau von hängigen Gesuchen
Seit einem Monat sitzt Vincenzo Mascioli (54) auf dem wohl härtesten Posten in Bundesbern. Der neue Chef des Staatssekretariats für Migration (SEM) darf bei seinem ersten Auftritt vor den Medien gleich eine Entspannung der Asylsituation ankündigen. Das SEM geht dieses Jahr von rund 4000 weniger Asylgesuchen aus. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum sollen die Asylzahlen sinken?
Der grosse Flüchtlingsstrom aus der Türkei ebbte letztes Jahr ab. Zudem stammten 3300 Gesuche von Asylsuchenden aus Afghanistan, die sich schon länger in der Schweiz befinden und aufgrund einer Praxisänderung des SEM ein Sekundärgesuch einreichten. Dieses Jahr kämen dafür nur noch rund 500 Personen infrage.
Wie gesichert ist die Prognose des SEM?
Dass es weniger Gesuche gibt, tritt laut SEM mit 60 Prozent Wahrscheinlichkeit ein. Ein zweites Szenario mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 30 Prozent zeigt jedoch eine Zunahme.
«Unsere Augen sind auf die Türkei gerichtet», sagte SEM-Migrationsanalyst Christoph Curchod. Denn übt das Land aufgrund des Regimewechsels in Syrien plötzlich Druck auf die rund drei Millionen aufgenommenen syrischen Flüchtlinge aus, könnten diese über den Balkan in Richtung Zentraleuropa weiterziehen, statt in ihr Herkunftsland zurückzukehren.
Zudem soll ab 2026 der EU-Pakt zu Migration und Asyl in Kraft treten, der unter anderem Schnellverfahren an den Grenzen sowie eine stärkere Zusammenarbeit mit Herkunftsstaaten mit sich bringt. «Es könnte zu einem Torschluss-Effekt kommen», sagte Curchod. Denn für Schlepper seien die drohenden Verschärfungen möglicherweise ein Verkaufsargument.
Was ist mit den Menschen aus der Ukraine?
Das SEM rechnet im wahrscheinlichsten Szenario mit rund 17'000 neuen Gesuchen von Personen aus der Ukraine – knapp 400 mehr als 2024. Die Bearbeitung würde jedoch immer aufwendiger, da viele Personen zuvor bereits in einem anderen europäischen Land Schutz ersuchten.
Wie will das SEM die Entlastung nutzen?
Für Mascioli scheint klar: Auch Kantone und Gemeinden sollen entlastet werden. Dafür will das SEM seinen hohen Pendenzenberg abbauen. Anfang 2024 waren noch 16'000 Gesuche hängig. Mittlerweile seien es bereits 4000 weniger. Das Ziel sei, sie bis 2026 auf 5700 zu reduzieren. Ab diesem Wert würden alle Gesuche in Bearbeitung stehen. «In den letzten Wochen sagten mir viele Regierungsräte, dieser Abbau sei für sie das Wichtigste», sagte Mascioli. Zusätzlich hält der Bund chancenlose Schutzsuchende aus der Ukraine bis auf weiteres in den Bundesasylzentren zurück.
Wie reagieren die Kantone?
Bisher hätten sich die Massnahmen des Bundes aber noch nicht ausgewirkt, teilen etwa die Kantone Bern, Aargau und Luzern mit. Die Anzahl Asylsuchender sei weiterhin auf einem Höchststand. «Die Situation dürfte sich erst mit grosser Verzögerung entspannen, sofern die Anzahl der Asyl- und Schutzgesuche in den kommenden Jahren deutlich sinke», sagt die Luzerner Asyldirektorin Michaela Tschuor (47). Zumindest der Kanton Bern erhofft sich bereits im laufenden Jahr eine gewisse Beruhigung der Lage.
Sowieso werde das grosse Thema nicht nur die Unterbringung sein, fügt Gaby Szöllösy (58) an. Sie ist Generalsekretärin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren. Der angespannte Wohnungsmarkt und befristete Verträge machten es für viele Kantone schwierig, genügend Unterkünfte zu halten. Auch fehlende Fachkräfte sowie angeschlagene Kantonsfinanzen sorgen für Schwierigkeiten.
Der Bund müsse zudem abgewiesene Personen endlich konsequent rückführen, fügen die Kantone Aargau und Luzern an.