Sie demonstrieren in Brüssel
EU-Kandidatenstatus ist Ukrainern nicht genug

Während die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten gewähren, wird die Dauer der Verhandlungen von den Ukrainern als untragbar empfunden. Das wurde vor dem Gipfel deutlich.
Publiziert: 23.06.2022 um 16:09 Uhr
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Aktualisiert: 23.06.2022 um 16:30 Uhr
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Am Donnerstagabend wird die EU über die Frage abstimmen, ob die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskanddiaten bekommen soll.
Foto: AFP
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Richard Werly

Man sollte Mariya nicht sagen, dass ihr Land erst in acht, zehn Jahren oder gar erst in 15 Jahren EU-Mitglied sein wird. Für die junge Ukrainerin, die in Amsterdam studiert und am Donnerstag in Brüssel vor dem Sitz der EU-Institutionen demonstriert hat, kommt das nicht infrage. «Die Ukraine ist Europa», rief sie in ihr Megafon vor etwa 50 weiteren Demonstranten, die in den blau-gelben Stoff ihres Landes oder in die Sternenflagge der EU gehüllt waren.

Kandidatur ist schon ein grosser Schritt

Mariya weiss, dass es bereits ein grosser Schritt sein wird, wenn die 27 Mitgliedstaaten der Ukraine den Status eines «unmittelbaren Beitrittskandidaten» verleihen – während die meisten Länder in der Regel mehrere Jahre warten, um den schwierigen Beitrittsprozess zu beginnen. Die junge Frau weiss auch, dass in den Bevölkerungen des Westbalkans – Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Montenegro – die Wut gross ist. Denn sie harren seit Jahren im Vorzimmer Europas aus.

Doch die Ukraine ist anders: «Europa ist für uns eine Frage des Überlebens», sagt Mariya. «Unsere Brüder, Verlobten, Ehemänner, Eltern kämpfen für euch Europäer. Wir kämpfen nicht gegeneinander, wie es beim Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens der Fall war. Wir kämpfen gegen Putin. Und ihr verlangt von uns, dass wir zehn Jahre warten?»

Der Ukraine eine europäische Perspektive geben

Die Meinung unter den Demonstranten ist einhellig. Für diese Ukrainer aus Belgien, Frankreich oder den Niederlanden kommt es nicht infrage, für Jahre im Kandidatenstatus zu verharren. Mikhail arbeitet in einer IT-Firma in Waterloo in der Nähe von Brüssel. Er kam kurz vor dem Ausbruch des Krieges am 24. Februar an.

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«Diejenigen, die glauben, dass sie unseren europäischen Willen mit diesem Kandidatenstatus besänftigen können, irren sich gewaltig», sagt er. «Jetzt müssen die Europäer ein beschleunigtes Verfahren erfinden. Sie wollen von uns verlangen, dass wir zehn Jahre warten, während Putins Bomben unsere Städte plattmachen?» Man könne nicht sagen, die Ukraine sei Europa, und meinen, damit sei es gut.

Politisches Kräfteverhältnis

Dieses Dilemma ist den europäischen Staats- und Regierungschefs und Diplomaten bewusst. Denn das Ja zur Kandidatur wird eine Spirale in Gang setzen. «Die Ukraine hat das politische Kräfteverhältnis auf ihrer Seite», räumt ein EU-Botschafter in Brüssel ein. «Je mehr, durchaus gerechtfertigte, technische und rechtliche Hindernisse wir ihrem Beitritt in den Weg legen, desto mehr wird man uns vorwerfen, die Toten und den Schmerz zu ignorieren. Wir haben die Verpflichtung, sehr schnell etwas für die Ukrainer zu erfinden.»

Es kursieren mehrere Ideen für die Zeit nach der Kandidatur. Beispielsweise wird in Brüssel die Idee einer starken Geste gegenüber der ukrainischen Bevölkerung gewälzt. Beispielsweise in Form eines erleichterten Zugangs zu Schengen-Visa.

«Europa, das sind Rechte, Freiheit und Sicherheit»

«Für uns bedeutet Europa Rechte, Freiheit, Sicherheit, einen gemeinsamen Raum, in dem wir alle gleichberechtigte Bürger sein müssen», sagt Mariya, ihre ukrainische Flagge schwenkend. «Das ist es, was Putin hasst. Das ist es, was er töten will. Sie können uns das nicht verweigern.» Die Ukraine als Kandidat? Sie freut sich darüber. Aber die Europäer sollten gewarnt sein: Niemand wird sich damit zufriedengeben. Vor allem nicht in Kiew.

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