Sahra Wagenknecht ist in aufgeräumter Stimmung, als wir uns in Zürich zum Gespräch treffen – sie ist gerade auf Vortragsreise in der Schweiz. Freundlich im Ton, aber hart in der Sache kritisiert die Linken-Politikerin andere Linke dafür, dass sie sich moralisch über Andersdenkende erheben.
Frau Wagenknecht, was heisst es, links zu sein, im eigentlichen Sinne?
Sahra Wagenknecht: Gute Frage. Es bedeutet, sich in der Politik für die Menschen zu engagieren, die es schwer haben. Für die, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden, die sich täglich bewähren und hart kämpfen müssen.
Es geht Ihnen also in Ihrem politischen Engagement um Aufstiegschancen für alle?
Ja, das ist der Kern einer linken Sozialpolitik, jedenfalls wie ich sie verstehe. Bildungschancen für alle, faire Löhne und anständige Renten für alle, soziale Sicherheit. Linkssein bedeutet natürlich auch, sich für eine produktive, innovative Wirtschaft einzusetzen, die Grundlage des Wohlstandes und Sozialstaates. Und aussenpolitisch bedeutet es ein Primat von Diplomatie, Dialog und Vertragstreue.
Die Gretchenfrage ist, wie man eine faire Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung erreicht. Wollen Sie die Leute befähigen oder betreuen?
Ich kann Sie beruhigen: befähigen. Die Leute sollen auf eigenen Beinen stehen und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können, unabhängig von Herkunft und Position der Eltern. Sie sollen sicher und in Würde leben können, in ihren Häusern, Quartieren und Dörfern. Und dafür braucht es eben vor allem: Bildung, Bildung, Bildung!
Unbestritten. Aber die Schulen bieten heute so viele Förderprogramme an wie noch nie – und das Bildungssystem ist durchlässig. Reicht Ihnen dies alles noch nicht?
Das mag vielleicht für die Schweiz zutreffen, im besten Fall. In Deutschland präsentiert sich jedoch ein anderes Bild: Ärmere Leute wohnen in ärmeren Quartieren mit schlechteren Schulen und einem schlechteren Lernniveau. Ihre Kinder werden in Schulen abgeschoben, deren Abgänger in der Regel weder richtig schreiben noch gut rechnen können und entsprechend schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Die Benachteiligungen verstetigen sich in vielen Biografien – und das darf in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht sein. Sonst haben wir am Ende eine neue Ständegesellschaft mit Armen- und Reichen-Ghettos, soziale Unruhen inklusive.
Was wäre denn die Lösung – doch mehr Betreuung in den Schulen, Bildungsgutscheine, Stipendien?
Stipendien sind sinnvoll, aber Bildungsgutscheine begünstigen eher die Ghettoisierung. Was es stattdessen braucht, ist eine bessere Durchmischung an den Schulen, damit alle voneinander lernen können. Anständig bezahlte Lehrer in ausreichender Zahl, die wichtiger sind als alle Lehrpläne dieser Welt. Und gezielte Förderung der Kinder und Jugendlichen auf allen Stufen – wer leisten will, soll dies auch können.
Sie sind Tochter einer alleinerziehenden Mutter, Ihr iranischer Vater ist verschollen, als sie noch ganz klein waren. Wurden Sie in der Familie gefördert?
Ich kann mich nicht beklagen. Meine Mutter, eine ausgebildete Ökonomin, nahm mich damals in der DDR schon früh ins Theater mit. Sie war auch sonst bemüht, mir Türen zu öffnen. Zugleich waren wir finanziell nicht auf Rosen gebettet – meine Mutter hat voll gearbeitet, im staatlichen Kunsthandel in einer Galerie, und zugleich hat sie sich um mich gekümmert. Das war alles andere als leicht. In heutiger Sprache würde man wohl sagen: Wir waren weder besonders benachteiligt noch privilegiert.
Es lässt sich kaum leugnen, dass Sie über einen ausgeprägten Leistungswillen verfügen. Hat Ihre Mutter Ihnen den eingeimpft?
Nein, meine Mutter zeigte mir die Welt, aber sie forcierte mich nicht. Seit ich mich erinnern kann, war ich ziemlich ehrgeizig, schon als Kind. Ich wollte beweisen, dass ich es konnte – weniger den anderen als mir selber.
Sie standen im Wettbewerb mit sich selbst?
So hat sich das angefühlt, in der Tat. Ich wollte immer besser werden, mehr lesen, mehr lernen, mehr begreifen. In der Schule habe ich es als Demütigung empfunden, wenn ich in der Prüfung keine Bestnote schrieb.
Verspürten Sie gesellschaftlichen Leistungsdruck?
Ich war neugierig und wissenshungrig. Meine Grosseltern hatten mir Lesen und Schreiben beigebracht, als ich vier war. Allerdings fanden sie, dass ein Kind in meinem Alter möglichst lange spielen soll. Spielen, nicht lernen! In meinem Fall war das sicher nicht der richtige Weg. Eingeschult wurde ich erst mit sieben Jahren, wie alle anderen Kinder in der DDR auch. Das schien mir damals sehr spät, am liebsten wäre ich schon mit vier Jahren zur Schule gegangen.
Sie waren eine gute Schülerin, haben später studiert und wurden in Volkswirtschaftslehre promoviert. Worin unterscheidet sich heutiges modisches Linkssein vom eigentlichen Linkssein, wie Sie es beschrieben haben?
Im Grunde: in allem. Der heutige Linksliberalismus ist weder links noch liberal, sondern die Ideologie eines gut situierten akademischen Grossstadtmilieus. Er reflektiert die Lebenswelt und Interessen dieser privilegierten Schicht in einer teilweise ziemlich überheblichen Form: Die Linksliberalen, die ich lieber Lifestyle-Linke nennen würde, engagieren sich für Diversity und offene Grenzen, gegen Rassismus und Klimawandel. Das ist durchaus honorig, aber sie können es sich auch leisten, ohne dass es ihnen wehtut; sie sind akademisch gebildet und sprechen dieselbe politisch korrekte Sprache; sie verdienen anständig und kommen meist schon aus wohlhabenden Elternhäusern.
Einverstanden. Aber was ist dagegen einzuwenden, wenn sich Menschen dazu entscheiden, den wohlbehüteten Lifestyle des radikal-alternativen Urban Chic zu leben?
Im Grunde nichts. Jeder kann mit dem Lastenfahrrad in den Bioladen fahren, sich dort mit hochstehenden Lebensmitteln eindecken und sich darüber freuen, dass er zu Hause einen Elektro-Zweitwagen stehen hat, der im besten Fall sogar von den neuen Sonnenkollektoren auf dem Dach gespeist wird. Das ist selbstverständlich alles höchst legitim und teilweise sogar sinnvoll – doch soll niemand glauben, er sei deswegen der bessere Mensch. Darin besteht der Kern der Ideologie der Lifestyle-Linken: dass man einen Lebensstil zu einem politischen Statement überhöht und auf alle herabsieht, die nicht so leben, essen, denken und reden wie man selbst. Dieses moralische Verächtlichmachen halte ich für ein echtes gesellschaftliches Problem.
Warum?
Weil diese Leute mittlerweile in den Metropolen, Medien, Verwaltungen und Parlamenten den Ton angeben – und sich nicht nur von den meisten Menschen entfernen, sondern sie auch noch verachten. Dies führt zu Ressentiments unter weniger privilegierten Leuten – und es führt überdies dazu, dass die Alltagsprobleme der meisten Menschen nicht mehr adressiert werden, weder in den Medien noch in der Politik. Deshalb wenden sich viele von der Politik ab, informieren sich nicht mehr, wählen nicht mehr oder aus Wut rechts. Je mehr Nichtwähler, desto instabiler die Demokratie! Denn Demokratie soll doch für die vielen da sein und nicht für die wenigen.
Wer vertritt Ihrer Meinung nach den von Ihnen beschriebenen Linksliberalismus politisch am konsequentesten?
Die Grünen. Sie vertreten die linksliberale Lehre in Reinform. Die SPD hat traditionell noch einige Wurzeln in den Gewerkschaften und im Arbeitermilieu, doch wird diese Herkunft immer mehr gekappt. Auch die SPD ist zu grossen Teilen eine linksliberale Akademikerpartei geworden, die sich um die eigenen Befindlichkeiten kümmert. Aber es gibt ja längst auch CDU-Ministerpräsidenten, die das Gefühl haben, dass sie gendern müssten. Und die CDU teilt längst mit den Grünen die Idee, Klimafragen über Lebensstilfragen zu thematisieren.
Welche Gegenrezepte haben Sie in petto?
Ganz einfach: die echten Probleme benennen und behandeln. Nehmen wir die Tochter von indischen Zuwanderern, die im IT-Bereich arbeiten und ein gutes Gehalt haben. Sie ist Migrantin und meinetwegen auch nicht weiss, aber natürlich ist sie wesentlich privilegierter als das Kind einer biodeutschen Niedrigverdiener-Familie, deren Vater sich als Möbelpacker abrackert und deren Mutter meist zu Hause ist, weil sie aufgrund des Mangels an beruflichen Qualifikationen bloss Gelegenheitsjobs bekommt.
Ergo?
Ergo sollten wir den Blick für die Ungerechtigkeiten in unserem Land schärfen. Wenn das Kind der Niedrigverdiener-Familie benachteiligt ist, so hat dies erst mal mit der Hautfarbe nichts zu tun, auch nichts mit Gender oder Geschlechtsidentität – den neuen Kategorien, die die woken Linksliberalen so sehr beschäftigen. Allerdings hat es sehr viel mit der wichtigsten Diskriminierung sehr vieler Menschen in Europa zu tun – der sozialen Diskriminierung aufgrund der Herkunft aus einem armen Elternhaus. Während wir schichtenblind geworden sind, reden modische Meinungsmacher ständig von Diskriminierungen wegen Hautfarbe oder sexueller Orientierung, die es natürlich auch noch gibt. Aber da ist etwas grundsätzlich verrutscht.
Mein Eindruck: Der woke Linksliberalismus ist keine basisdemokratische Bewegung, sondern ein Putsch von oben. Selbsternannte anwaltschaftliche Sprecher klagen an im Namen angeblich benachteiligter Minderheiten, die sie gar nicht kennen – und von denen sie auch kein Mandat haben.
Zugegeben: Das anwaltschaftliche Sprechen ist ein echtes Problem. Doch reden die anwaltschaftlichen Sprecher in sozialen und klassischen Medien oftmals nicht nur im Namen anderer, die sie nicht kennen. Sie wollen zugleich ihre Erziehungsbeauftragten sein – das neue Ideal ist das richtige Leben nach der Lehre der Lifestyle-Linken. Und dieses Ideal ist zynisch, weil es sich die meisten Menschen gar nicht leisten können, ganz abgesehen davon, ob es wirklich wünschenswert wäre, wenn alle den woken Unsinn mitmachen würden.
Sie übertreiben!
Sie untertreiben! Es handelt sich dabei nicht mehr um ein mediales Phänomen – die Lifestyle-Linken haben längst damit begonnen, die Gesellschaft in Betrieben, Bildungsinstitutionen und Medien mit ihren Regeln und Sprachcodes umzugestalten. Wir erleben gerade das Ende liberaler Debatten mit unterschiedlichen Meinungen und das Wiederaufleben eines Moralismus, der nur zwei Prädikate kennt: gut und böse. Wobei dieser Moralismus auch noch zutiefst unehrlich ist – viele von denen, die von Flugscham reden, fliegen beruflich und privat um die halbe Welt. Im besten Fall kompensieren sie das, indem sie ihre CO2-Bilanz und ihr Gewissen durch den Aufkauf geeigneter Zertifikate verbessern. Oder sie investieren in Investmentfonds, die oftmals eher grün gewaschen als wirklich umweltfreundlich sind. Der neue Moralismus ist in der Regel Ausdruck einer ziemlichen Doppelmoral.
Wie halten Sie es selbst mit dem Gendern?
Diese Idee, man könne mit einer Änderung der Sprache zugleich die gesellschaftliche Realität verändern, ist völlig lebensfremd. Man kann selbstverständlich hochkorrekt über eine völlig ungerechte Welt reden – das ändert nicht das Geringste am Status quo, das zementiert sogar die bestehenden Verhältnisse. Aber noch schlimmer finde ich etwas anderes.
Was denn?
Die politisch korrekte Sprache, zu der auch die angebliche gendergerechte Sprache zählt, ist eine Art Sprachcode für geisteswissenschaftlich geschulte Sprachbenutzer. Ein Distinktionsmerkmal, um sich vom einfachen Volk abzuheben und abzugrenzen. Sie können sich damit ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der angeblich Weltoffenen versichern und alle anderen, die ständig in irgendwelche sprachliche Fettnäpfen treten, verächtlich machen.
Wie reden Sie selbst – wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist oder nach Möglichkeit korrekt und gendersensibel?
Ich halte mich an die Regeln der deutschen Sprache. Eine Rede beginne ich mit «sehr geehrte Damen und Herren» und wende mich damit an alle Anwesenden im Saal. Ansonsten spreche ich grundsätzlich von «Zuhörern», «Mitarbeitern» oder «Studenten» und meine damit natürlich beide Geschlechter. Ich vermeide es, von «Zuhörenden», «Mitarbeitenden» oder «Studierenden» zu reden, was ja semantisch falsch ist, und ich verzichte auch darauf, jedes Mal die weibliche und die männliche Form zu wiederholen, bis die Sprache zur Realsatire wird, oder Sprachpausen einzubauen, die einen geschriebenen Genderstern oder Doppelpunkt darstellen sollen. All diese Diskussionen kann ja kein normaler Mensch mehr ernst nehmen – das ist eine Verunstaltung der deutschen Sprache, eine Zerstörung zwischenmenschlicher Kommunikation, die die Welt nicht um ein Jota gerechter macht.
Der Befund ist paradox: Je mehr gegendert wird, desto heisser ist die Debatte um sprachliche Diskriminierung aller Art.
Das entspricht der Logik der ganzen Sache. Denn natürlich kann immer jemand für sich in Anspruch nehmen, nicht angemessen angesprochen oder sprachlich abgebildet zu werden. Das Spiel lässt sich ewig weiterdrehen. Ich finde solche Diskussionen, ehrlich gesagt, sehr ermüdend. Sie haben mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nichts zu tun. Niemand sollte sich von selbsternannten Sprachpolizisten terrorisieren lassen. Die Sprache gehört allen. Darum: meinetwegen jedem, der will, sein Sternchen – und jedem, der will, sein generisches Maskulinum!
Sahra Wagenknecht wurde 1969 in Jena geboren, als Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters, der in West-Berlin studierte. Nach dem Studium der Philosophie wurde sie 2012 mit einer Arbeit in Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Chemnitz zum Dr. rer. pol. promoviert. Wagenknecht gehörte in den 1990er-Jahren dem Bundesvorstand der Partei des Sozialdemokratischen Sozialismus (PDS) an und zählt zu den Gründern der Folgepartei Die Linke. Von 2004 bis 2009 war sie Mitglied im Europäischen Parlament, seit 2009 ist sie Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sahra Wagenknecht hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem «Die Selbstgerechten» (2021), «Reichtum ohne Gier» (2016) und «Freiheit statt Kapitalismus» (2012). 2019 ist im Campus-Verlag ihre Lebensgeschichte erschienen (Christian Schneider: «Sahra Wagenknecht. Die Biografie»).
Sahra Wagenknecht wurde 1969 in Jena geboren, als Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters, der in West-Berlin studierte. Nach dem Studium der Philosophie wurde sie 2012 mit einer Arbeit in Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Chemnitz zum Dr. rer. pol. promoviert. Wagenknecht gehörte in den 1990er-Jahren dem Bundesvorstand der Partei des Sozialdemokratischen Sozialismus (PDS) an und zählt zu den Gründern der Folgepartei Die Linke. Von 2004 bis 2009 war sie Mitglied im Europäischen Parlament, seit 2009 ist sie Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sahra Wagenknecht hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem «Die Selbstgerechten» (2021), «Reichtum ohne Gier» (2016) und «Freiheit statt Kapitalismus» (2012). 2019 ist im Campus-Verlag ihre Lebensgeschichte erschienen (Christian Schneider: «Sahra Wagenknecht. Die Biografie»).
Was bedeutet es, liberal zu sein im ursprünglichen Sinne?
Der Respekt vor anderen Meinungen und der strikte Einsatz dafür, dass jeder die seine äussern kann. Das ist für mich der Kern des Liberalismus. Es geht auch um das Bewusstsein dafür, dass man sich selber immer täuschen kann, dass sich die eigenen Überzeugungen durch Erfahrung oder Erkenntnis ändern können – dass wir also lernfähige Wesen sind und nur durch Austausch gemeinsam weiterkommen.
Und im Wirtschaftsleben?
Echter Leistungswettbewerb für gemeinsamen Fortschritt. Wirtschaftsliberal zu sein, bedeutet eben gerade nicht, dass der Stärkere und Mächtigere absahnt – es bedeutet, dass alle Marktzugang haben und die Besseren sich am Ende durchsetzen. Die souveränen Konsumenten müssen echte Auswahl haben, um zu entscheiden, welcher Hersteller die besten Produkte anbietet.
Sie klingen ja wie eine waschechte Ordoliberale!
Gerne, das ist für mich kein Schimpfwort – im Gegenteil. Die Ordoliberalen haben erkannt: Der spontane Markt regelt nicht alles – es braucht den fairen Wettbewerb, und dafür braucht es wiederum die richtigen Regeln und Regulierungen, also den Staat. Er muss mit harten Kartellgesetzen dafür sorgen, dass sich die Besten durchsetzen, nicht die Mächtigsten, und dass die Konsumenten nicht abgezockt werden. Davon sind wir leider weit entfernt.
Lassen Sie mich zum Schluss eine Passage aus Ludwig Erhards Klassiker «Wohlstand für alle» vorlesen. Okay?
Nur zu!
«Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstandes ist der Wettbewerb.»
Einverstanden. Wettbewerb ist der zentrale Hebel für Innovation, Produktionswachstum und Wohlstand, keine Frage. Allerdings würde ich sagen, dass der Staat im Fall technologischer Umbrüche eine Anschubfinanzierung leisten muss – siehe, zum Beispiel, das Silicon Valley, das ja ohne die staatliche Militär-Forschung im Ursprung nicht denkbar gewesen wäre.
«Er (der Wettbewerb) allein führt dazu, den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im Besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugutekommen zu lassen und alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen.»
Leistung ist natürlich zentral – aber das ist zu idealistisch gedacht. Das schafft der Wettbewerb nicht alleine. Denn natürlich hat, wer beispielsweise ein Unternehmen erbt, einen grossen Vorteil – er braucht es nicht selbst zu managen, sondern kann dafür jemanden einsetzen. Und in diesem Fall verfügt er über immense Einnahmen, die mit Leistung nichts zu tun haben.
Gegenargument: Es ist nicht nur eine grosse Leistung, ein Unternehmen selber aufzubauen, sondern auch, eins zu erben und in seiner Innovationsfähigkeit und damit in seinem Wert zu erhalten.
Wenn Sie es selber führen und selbst anpacken, klar! Aber wenn Sie jemanden dafür bestellen, dann nicht. Und es gibt ja mittlerweile viele solche Modelle, mit privaten Unternehmensstiftungen und Trusts. Oder auch bei grossen, ordentlich diversifizierten Aktiendepots. Die privilegierten Anteilseigner erhalten Ausschüttungen, ohne selbst Verantwortung zu tragen. Dann sind Sie tatsächlich Bezieher eines millionenschweren leistungslosen Grundeinkommens – das ist Feudalismus in Reinkultur.
«Auf dem Wege über den Wettbewerb wird, im besten Sinne des Wortes, eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten.»
Der Gewinn gehört dem Eigentümer und wird nicht automatisch sozialisiert. Es bedarf eines Aushandlungsprozesses und angemessener Regeln am Arbeitsmarkt, um sicherzustellen, dass auch die Arbeitnehmer ihren gerechten Anteil am Wohlstand bekommen. Dabei ist klar – es ist wichtig, dass die Unternehmer ihre Gewinne auch investieren. Nur so entstehen innovative Produkte über eine längere Zeit – und damit auch attraktive Arbeitsplätze.
Sie reden wie Volkswirtin! Natürlich kommt es auf die Branche an, aber in der Industrie gilt für die Wertschöpfung eines Unternehmens überschlagsmässig: 80 Prozent der Wertschöpfung gehen als Löhne an die Mitarbeiter, etwas weniger als 10 Prozent als Dividenden an die Aktionäre, gut 5 Prozent fliessen in die Rückstellungen und 5 Prozent als Steuern an den Staat.
Zugegeben. Viele Familienunternehmer wollen, dass die Arbeitnehmer fair bezahlt werden. Geht es ihnen gut, geht es auch dem Unternehmen gut. Nur so können sie im Markt bestehen. Zugleich gibt es jedoch immer mehr globale Konzerne, die als Aktiengesellschaften organisiert sind. Und da gehts um das Drücken der Lohnkosten und die Steigerung des Gewinns auf kurze Frist, also um schnelle Rendite, und der grösste Teil des Gewinns wird ausgeschüttet.
Letzte Frage – die wohl drei profiliertesten Politiker in Deutschland sind gegenwärtig drei Frauen: Sie, Annalena Baerbock und Alice Weidel. Ein Zufall?
Sind wir das? Das ist eine Frage der politischen Sichtweise. Frauen bewegen sich ja in Deutschland längst nicht mehr in einer Nische – wir hatten 16 Jahre lang Angela Merkel als Bundeskanzlerin.
Sie lenken ab. Angela Merkel war nicht besonders profiliert – sie machte mit den Händen die Raute und schwieg oftmals vielredend.
Naja, vielleicht war gerade das ihr besonderes Profil? Aber ansonsten: Frauen? Männer? Egal. Dazu fällt mir nicht viel ein.
* Interviewer René Scheu ist Philosoph, Blick-Kolumnist und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.