Wladimir Putins irre Kriegserklärung
Der Aggressor blamiert seine Fans

Der Kreml-Chef stellt mit dem Überfall auf die Ukraine seine zahlreichen Bewunderer im Westen bloss – auch jene in der Schweiz.
Publiziert: 27.02.2022 um 15:01 Uhr
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Aktualisiert: 27.02.2022 um 15:24 Uhr
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«Konsequenzen, wie Sie sie noch nie gesehen haben»: Putin in seiner Ansprache am Donnerstag.
Foto: keystone-sda.ch
Reza Rafi, Simon Marti

Es war ein gespenstischer Auftritt. In der Nacht auf Donnerstag, um vier Uhr morgens, liess Wladimir Putin (69) seine Kriegserklärung ausstrahlen. Mit finsterer Miene kündigte er vor der russischen Flagge und der Präsidentenstandarte die Invasion gegen den verhassten Nachbarstaat an.

Es ist der erste Angriffskrieg dieser Art auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Die rhetorischen Parallelen zu damals sind unheimlich. In Hitlers Reichstagsrede vor dem Überfall auf Polen 1939 ging es um die Schmach des Versailler Vertrags für Deutschland, heute geht es um die nationale «Erniedrigung» Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

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Brüske Beseitigung jeglicher Nettigkeiten

Während Putin am Donnerstag von einem entstehenden «Anti-Russland» an den Staatsgrenzen warnte, sprach der NS-Diktator 1939 davon, «von den deutschen Grenzen das Element der Unsicherheit zu entfernen». Kriegsgrund war 1939 ein erfundener polnischer Angriff auf eine Sendeanlage («Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen»), heute sind es angebliche ukrainische Verbrechen gegen die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk. Damals kam das vermeintliche Ungemach von den Feinden des Nationalsozialismus, heute von der Nato.

Nein, Putin ist nicht Hitler. Der Kreml-Chef wird jedoch mit seiner brüsken Beseitigung jeglicher dekorativer Nettigkeiten die westliche Russland-Haltung nachhaltig verändern.

Die SVP pocht auf Neutralität

Bislang gab es im Umgang mit dem Autokraten in Moskau eine bunte Appeasement-Fraktion – von Showgrössen wie Gérard Depardieu und Steven Seagal über linke Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht und Gerhard Schröder bis zur rechtspopulistischen Internationalen: Marine Le Pens Front National und die österreichische FPÖ pflegten ebenso herzliche Verbindungen nach Moskau wie Donald Trump. Putins moralische Selbstentblössung stellt dieses Lager nun vor erhöhten Erklärungsbedarf.

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In der Schweiz, dem Rückzugsgebiet vieler Oligarchen, hält die SVP die geringste Distanz zu Putin. Während die anderen Parteien das russische Vorgehen verdammen, sperrt sich die Rechtspartei primär gegen die Übernahme der EU-Sanktionen. Ihr Neutralitätsargument scheint allerdings nur punktuell zu gelten. So hat der Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, SVP-Mann Franz Grüter (58), von den USA eine Garantie gefordert, dass die Ukraine der Nato fernbleibt. Mit Neutralität gegenüber Kiews Unabhängigkeit hat das wenig zu tun.

Grüter legt nicht als einziger Parteiexponent einen dehnbaren Begriff von nationaler Souveränität an den Tag.

Junge Demokratie wird zu «totalitärem Regime»

Als die Schweiz am Donnerstag zur Nachricht des russischen Angriffs erwachte, beugte sich die «Weltwoche» fürsorglich über den «missverstandenen» Putin. Verleger und SVP-Nationalrat Roger Köppel (56) adelt den Aggressor aus Moskau zur «wandelnden Kriegserklärung [sic!] an den Zeitgeist, an die Woke- und Cancel-Culture». Köppel setzt Putin, dessen Karriere mit Kriegsverbrechen von Grosny bis Aleppo gesäumt ist, das Anti-Mainstream-Krönchen auf.

Die Putin-Verklärung taucht bei der SVP immer wieder auf. Schon vor Jahren entwickelte der ehemalige Walliser Staatsrat Oskar Freysinger (61) seine ganz eigene Sicht auf den Konflikt. Nachdem die Maidan-Revolution den autoritären und russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch 2014 verjagt hatte, erklärte der damalige Nationalrat die neugeborene Demokratie in einem Vorstoss zum «totalitären Regime».

Antifaschistische Folklore

Anders als Freysinger politisiert die Luzerner Nationalrätin Yvette Estermann (54) noch immer für die SVP in Bern und verteidigte 2014 die Annexion der Krim, die «seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zu Russland» gehöre. Wie ihr Parteikollege lehnte sie Sanktionen gegen Moskau stets ab. Schliesslich, so die Stossrichtung eines ihrer Vorstösse, sei ja trotz des Angriffs auf Serbien 1999 auch kein Nato-Staat je sanktioniert worden. Dem russischen Präsidenten würde warm ums Herz.

Freysinger, in dessen Keller zu jener Zeit eine deutsche Reichskriegsflagge aus dem Ersten Weltkrieg hing, schob im besagten Vorstoss die Frage nach: «Wollen wir im Osten den Neonazismus reinwaschen, den wir bei uns so energisch bekämpfen?»

Das ist exakt das Denkmuster des Kremls, dessen Propaganda-Medien den Angriffskrieg in antifaschistische Folklore packen und von einem neuen «Nürnberger Prozess» gegen die ukrainische Elite fabulieren – angesichts der oben erwähnten Analogien zur dunkelsten Stunde Europas der pure Hohn.

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