Roche-Diplomatin Annette Luther
«Trumps Versprechen gilt nur für vier Jahre»

Sie kritisiert EU-Vertragsgegner und rät zur Geduld mit Trump: die Roche-Diplomatin und Vizepräsidentin von Scienceindustries im Interview.
Publiziert: 07.03.2025 um 20:39 Uhr
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Annette Luther, Vizepräsidentin des Pharma- und Chemieverbandes Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin für Länderbeziehungen bei Roche.
Foto: Thomas Meier

Auf einen Blick

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Andreas Valda
Handelszeitung

Jetzt kommt die geballte Kritik an der Kritik der EU-Vertragsgegner. Die hochrangige Schweizer Pharmavertreterin Annette Luther tritt Vorwürfen entgegen, der Bundesrat habe in Brüssel schlecht verhandelt. Es werde keine «fremden Richter» geben, die Personenfreizügigkeit sei ein wichtiges Konzept, um gute Leute zu finden. Und es sei gefährlich, die Arbeitsmigration zu begrenzen. Es gebe keinen Grund, das bilaterale Verhältnis mit der EU aufs Spiel zu setzen. Luther hat drei Hüte an: als Chefin Länderbeziehungen bei Roche, als Vizepräsidentin des Pharma- und Chemieverbandes Scienceindustries und als Präsidentin des Konzernverbands Swissholdings.

Spielen Sie Golf?
Annette Luther: Nein.

Sie sind die Chefdiplomatin des Roche-Konzerns. Donald Trump spielt gerne Golf. Müssten Sie jetzt nicht zu ihm nach Florida reisen? In der Pharmaindustrie geht es gerade um sehr viel.
Nein, das muss ich nicht. Als Diplomatin, wie Sie sagen, trete ich vor allem in der Schweiz auf. In den USA haben wir – wie andere Pharmaunternehmen – darauf spezialisierte Leute in Washington.

Spielen Ihre US-Leute Golf? Denn nur so, heisst es, komme man an Trump und seine Vertrauten ran. Der Schweizer Pharmaindustrie drohen hohe Zölle auf Schweizer Medikamente.
Wir konzentrieren uns derzeit darauf, zu analysieren, welche Folgen seine Verlautbarungen für unser Geschäft und alle betroffenen Unternehmen in der Schweiz haben könnten. Wir pflegen dabei mit einer gewissen Ruhe und Distanz an die Sache zu gehen. Immerhin weiss man in den USA, dass die Schweizer Pharmaindustrie dort stark ist. Schweizer Pharmaunternehmen haben dort einen grossen Footprint. Deshalb hoffen wir, dass Trumps Interesse an einer starken US-Wirtschaft in seiner Abwägung der Dinge überwiegen wird.

Annette Luther, Vizepräsidentin von Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin Roche-Länderbeziehungen.
Foto: Thomas Meier

Wie viele Standorte hat Roche in den USA?
Roche verfügt in den USA über die gesamte Pharma- und Diagnostikwertschöpfungskette mit vier Standorten in unserer Pharmasparte und sieben Standorten in der Diagnostik. Wir sind dort mit mehr als 25’000 Mitarbeitenden stark vertreten. Schweizer Unternehmen sind tief im US-Markt integriert. Unser Land ist mit einem Kapitalbestand von 309 Milliarden Dollar der siebtgrösste Investor dort. Rund 500’000 Mitarbeitende sind in Schweizer Unternehmen beschäftigt.

Sollte Trump wie angekündigt Zölle einführen, welche in der Schweiz produzierten Medikamente würde es treffen?
Das kann ich zurzeit noch nicht einschätzen. Besonders im Sinne der Patienten in den USA hoffe ich keine. Viele Unternehmen haben globale Produktionsnetzwerke und produzieren sowohl in den USA als auch in der Schweiz.

Annette Luther, Vizepräsidentin von Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin Roche-Länderbeziehungen.
Foto: Thomas Meier

Gibt es Vorprodukte aus den USA, die in die Schweiz zur Weiter- oder Endverarbeitung kommen?
Ja, die gibt es.

Mit anderen Worten: Mit dem Hin und Her der Produkte könnten sich die Zölle je Produkt summieren?
Richtig, und wenn alle Länder anfangen würden, Zölle zu erheben, würden alle verlieren. Grundsätzlich sind Medikamente, die als humanitäre Güter gelten, gemäss WTO von Zöllen ausgenommen. Sie sind sogar von internationalen Sanktionen ausgenommen, da alle wissen, wie lebenswichtig es ist, dass Menschen weiter ihre Medikamente bekommen.

Sie vertreten als Vizepräsidentin des Verbandes Scienceindustries die Schweizer Pharma und Chemie. Wie viele Ihrer Mitgliedsunternehmen haben Produktionsstätten und Angestellte in den USA?
Rund 100 unserer 250 Mitgliedsunternehmen sind in den USA präsent.

Trump hat ebenfalls ins Spiel gebracht, dass die hohen, unregulierten Pharmapreise in den USA die Forschung massgeblich mitfinanzierten. Mehr als die europäischen Preise, sagte er, denn in Europa seien die Preise reguliert und ergo viel tiefer. Die US-Patienten würden die europäische Forschung unfair querfinanzieren. Stimmt das?
Die zukünftige Ausrichtung der US-Gesundheitspolitik ist noch nicht definiert. Schweizer Unternehmen sind entschlossen, mit der neuen US-Regierung und politischen Entscheidungsträgern beider Parteien zusammenzuarbeiten. Das Ziel ist, Lösungen zu erarbeiten, die den Zugang der US-Patienten zu innovativen Medikamenten verbessern. 

Annette Luther, Vizepräsidentin von Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin Roche-Länderbeziehungen.
Foto: Thomas Meier

Trifft Trumps Vorwurf zu, dass die Pharmaindustrie in den USA das Geld bei den Patienten holt, um in Europa zu forschen?
Die USA haben eine starke Pharmaindustrie, die mit der gesamten Wertschöpfungskette vertreten ist. Die dortigen Erträge aus dem Verkauf fliessen in die dortige Forschung zurück. Die Position der US-Pharmaindustrie ist keine andere als die der Schweiz.

So erscheinen Trumps Ankündigungen als heisse Luft.
Lassen Sie uns die Zeit, damit wir genau verstehen können, was die neue US-Regierung im Auge hat. Was klar ist: Wer Importzölle erhebt, riskiert, dass dadurch die Preise im eigenen Land steigen.

Sehen Sie den Deal, den Trump will?
Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer zu sagen, aber er äusserte, er wolle ausländische Firmen zu Investitionen in den USA anregen. Das scheint eines der Ziele zu sein.

Ist das denn realistisch? Trump ist bloss vier Jahre im Amt. Wird eine Pharmafirma ihre Forschung und Produktion innert vier Jahren aus der Schweiz abziehen und in den USA aufbauen?
Was klar ist: Das Innovationsumfeld in den USA ist gut. Deshalb wird dort schon heute viel geforscht, auch akademisch. Man findet in den USA auch viele gut ausgebildete Leute. Ob nun mehr Forschung dorthin verlegt werden sollte, wird sich jedes Unternehmen sehr gut überlegen, denn das Versprechen Trumps gilt für vier Jahre. Man weiss nicht, was danach kommt.

Es geht um Investitionssicherheit.
Absolut. Die Pharmaindustrie braucht stabile Bedingungen, weil wir sehr lange Entwicklungszyklen von bis zu 15 Jahren von der Forschung bis zum marktreifen Medikament haben. Deswegen ist es auch sehr wichtig, dass die Schweiz mit der EU stabile Rahmenbedingungen vereinbart.

Derzeit wird über eine fundamentale Veränderung des Verhältnisses der USA zu Europa gesprochen, politisch und wirtschaftlich. Wo sehen Sie die Chancen und Gefahren für die Schweiz?
Gute Handelsbeziehungen in die ganze Welt sind für uns essenziell. Die Schweiz ist ein relativ kleines Land, in dem dennoch sehr grosse globale Unternehmen ansässig sind. Dafür braucht es hier sowohl gute Rahmenbedingungen als auch gute wirtschaftliche Beziehungen auf der ganzen Welt.

Annette Luther, Vizepräsidentin von Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin Roche-Länderbeziehungen.
Foto: Thomas Meier

Soll die Schweiz deshalb neutral sein?
Ja, auch wenn dies nicht immer leicht ist. Aber die Schweizer Neutralität ist sicher ein Grund, weshalb das Land so angesehen und wirtschaftlich stark ist.

Sie sind bei Scienceindustries. Dort ist Frau Martullo-Blocher im Vorstand, als Vertreterin der Chemie. Sie lehnt das EU-Vertragspaket dezidiert ab – das seien Knebelverträge. Die Pharmaindustrie ist geschlossen dafür. Was für eine Atmosphäre herrscht im Verband?
In der Branche und auch im Verband haben wir einen sehr breiten Konsens in der Europa-Frage.

Und wie lautet der Konsens?
Dass die Schweiz die bilateralen Verträge mit der EU unbedingt weiterführt. Sie führen zu Wohlstand und sind wichtig für das Land insgesamt und auch für unsere Branche. Eine Zahl zur Veranschaulichung: Die Wirtschaftsleistung pro Kopf (BIP) ist seit Inkrafttreten der bilateralen Verträge 1999 um 25 Prozent gestiegen. Pro Person sind wir im Schnitt 16’500 Franken reicher geworden. Dies ist eindeutig mehr als in allen EU-Ländern. Die Schweiz hat überdurchschnittlich von den bilateralen Verträgen profitiert.

Und die Pharmaindustrie mit ihr ...
Die Pharma-und Chemiebranche macht rund die Hälfte aller Schweizer Exporte aus, wovon wiederum rund die Hälfte in die EU gehen. So versteht man, warum uns die bilateralen Verträge so wichtig sind.

Die EU-Gegnerschaft bestreitet die Wichtigkeit nicht. Sie sagt aber: Die Pharmabranche hat starke Produkte, die sich unabhängig von bilateralen Verträgen erfolgreich exportieren lassen – so wie in die USA.
Gerade die aktuelle geopolitische Situation zeigt, wie schnell sich die Situation ändern kann. Umso wichtiger sind völkerrechtlich abgesicherte Verträge. Lieber einen guten Vertrag in guten Zeiten abschliessen, als zu warten, bis sich das Verhältnis eintrübt und es zu unvorteilhafteren Konditionen kommt.

In Bundesbern heisst es, die Pharmabranche wolle das EU-Vertragspaket, um die Personenfreizügigkeit – sprich: den freien Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt – sichern zu können. Stimmt das?
Uns sind drei Abkommen wichtig: das Abkommen über den Abbau von Handelshemmnissen, das Forschungsabkommen Horizon und jenes zur Personenfreizügigkeit. Letzteres sticht heraus, denn wir sind nicht in der Lage, die Fachkräfte nur aus der Schweiz zu rekrutieren. Dafür ist unser Land einfach zu klein. Wir stellen auch Leute aus Drittstaaten an. Doch der EU-Binnenmarkt ist für unsere Unternehmen nach der Schweiz der wichtigste Arbeitsmarkt. EU-Angehörige stehen uns kulturell nahe, und die Ausbildungswege sind nahe bei dem, was wir hierzulande kennen. Lassen Sie mich betonen, dass unsere Unternehmen intensiv in die Ausbildung investieren und wenn immer möglich in der Schweiz rekrutieren, aber dies deckt den Bedarf an Arbeitskräften bei weitem nicht ab.

Annette Luther, Vizepräsidentin von Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin Roche-Länderbeziehungen.
Foto: Thomas Meier

Die Gegnerschaft relativiert die Handelshemmnisse. Sie sagt, dass Konzerne wie Roche heute schon EU-Niederlassungen haben. Was würde sich für Roche ändern, sollte die Schweiz das Abkommen über den Abbau von Handelshemmnissen verlieren?
Es anerkennt beispielsweise die gegenseitige Prüfung von Produktionsanlagen. Ein Beispiel: TÜV Süd prüft unsere Entwicklungs- und Produktionsprozesse bei Roche Diagnostics in Rotkreuz. Seine Prüfung allein genügt für die EU und für die Schweiz. Das ist günstiger und erleichtert das Geschäft enorm.

Selbst ohne Abkommen könnte TÜV Süd die Anlagen kontrollieren. Und die Schweiz würde die Prüfung einseitig anerkennen. Wo ist das Problem?
Ja, das könnte die Schweiz. Doch den direkten Draht nach Brüssel, wo die Regeln gemacht werden, würden wir verlieren. Und lassen Sie es mich deutlich sagen: Wenn wir das bilaterale Verhältnis nicht mit dem Vertragspaket weiterführen, wird die EU Wege finden, um die Handelsbeziehungen mit der Schweiz zu erschweren. Die EU hat gezeigt, dass sie es kann: das Abhängen der Medtech-Brache, das Ende von Horizon, die Aberkennung der Schweizer Börse. Warum sollten wir das riskieren?

Manche sagen: EU-Länder wie Deutschland halten sich nicht an EU-Regeln – etwa wegen der Grenzkontrollen. Die Bürokratie überbordet in Brüssel. Warum soll sich die Schweiz mit einer Partnerin binden, die politisch zerrüttet ist?
Heute kann die Schweiz Deutschland wegen der Grenzkontrollen nicht zur Rechenschaft ziehen. Dies würde sich mit dem ausgehandelten EU-Vertragspaket ändern. Dann könnte die Schweiz vor dem Schiedsgericht eine Beschwerde einreichen. Der angedachte Streitschlichtungsmechanismus ist auch für uns vorteilhaft.

Die Streitschlichtung beinhaltet eine Beurteilung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Juristen wie der frühere Efta-Richter Carl Baudenbacher sagen, dass dieser Gerichtshof parteiisch sei.
Das sehe ich nicht so. Und: Das letzte Wort hat das paritätisch besetzte Schiedsgericht, nicht der EuGH.

Ist die Behauptung, dass der EuGH ein fremder Richter ist, falsch?
Ja. Der EuGH richtet nicht über die Schweiz. Er macht eine Auslegung des EU-Binnenrechts. Was ich bei all dieser Kritik sagen muss: Die Schweiz hat mit den Bilateralen III eine massgeschneiderte Lösung erhalten. Sie hat während der Verhandlungen in allen Punkten, die sie wollte, Vorteile erhalten. Der Bundesrat hat in Brüssel sehr erfolgreich verhandelt.

Annette Luther, Vizepräsidentin von Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin Roche-Länderbeziehungen.
Foto: Thomas Meier

Sehr erfolgreich?
Wir sind der einzige Staat ausserhalb der EU und des EWR, der Zugang zum Binnenmarkt behält. Ich halte dies für eine einzigartige Chance. Was wir jetzt vorliegen haben, ist deutlich besser als der vorherige Rahmenvertrag. Natürlich müssen auch wir die Vertragstexte noch prüfen, ich stütze mich auf die bisher bekannten Informationen.

Wir sind Teil des Binnenmarkts und müssen seine Regeln befolgen. Wir können die Regeln des Binnenmarkts aber nicht beeinflussen.
Das stimmt nicht. Wir werden künftig über das sogenannte Decision Shaping mitreden können.

Diese Mitbestimmung ist allerdings vage gehalten. Sie sind auch Präsidentin des Verbandes Swissholdings, der die Interessen der Konzerne vertritt. Der Amcham-Direktor sagte der «Handelszeitung», dass auch viele US-Firmen Ihre Mitglieder sind. Stimmt das?
Es gibt natürlich auch US-Unternehmen im Verband, aber die Mehrheit der Mitglieder sind Schweizer Konzerne. Insgesamt sind wir über sechzig Unternehmen.

Die US-Niederlassungen seien hier, weil sie den Zugang zum EU-Binnenmarkt haben, ohne die Überregulierung der EU erdulden zu müssen. Stimmt das?
Die Schweiz ist beliebt, weil sie schlank reguliert ist, Rechtssicherheit bietet und hier die Wege zu den Behörden kurz sind.

Ein entscheidender Vorteil für diese Konzerne in der Schweiz sei das liberale Arbeitsrecht. Stimmt das auch?
Ja, das ist ein wichtiger Vorteil. Die Konzerne haben aber oft auch EU-Niederlassungen und können dann vergleichen, wo man sich schneller an das sich ändernde Wirtschaftsumfeld anpassen kann. In EU-Ländern ist ein solcher Prozess langwieriger. 

In der Schweiz kann man hier leichter entlassen, aber auch leichter fest einstellen?
Ja, und diese Dynamik und Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarkts kommen Unternehmen wie Arbeitnehmern zugute und sind sicherlich ein entscheidender Grund dafür, warum die Schweizer Arbeitslosenquote auf niedrigem Niveau ist. Ein Beispiel: die Möglichkeit temporärer Anstellungen im Rahmen eines aufwendigen Entwicklungsprojekts. Man baut das Personal mit temporären Spezialisten auf und baut es ab, wenn das Projekt aufgelöst ist und die Spezialisten dann zum nächsten Projekt ziehen. Dies ist eine Stärke der Schweiz, woanders ist das schwierig.

Links-Grün wie Rechts äussern häufig ihre Abneigung gegenüber Konzernen. Ausländische Manager seien ein paar Jahre hier, interessierten sich nicht für die politische Kultur und verschwänden wieder. Was entgegnen Sie ihnen?
Dieser Vorwurf deckt sich nicht mit meiner Beobachtung. Beispiel Roche: Der Präsident, Severin Schwan, Bürger von Österreich, Deutschland und der Schweiz, ist seit über zwanzig Jahren hier. Unser CEO, Thomas Schinecker, ein deutsch-österreichischer Doppelbürger, ist seit acht Jahren hier und hat seine ganze Karriere bei Roche verbracht. Gewiss, um Manager zu werden, muss man verschiedene ausländische Standorte von innen gesehen haben – aber gerade dies ist wichtig, um Schweizer Unternehmen sowohl inländisch als auch global erfolgreich führen zu können. Herr Schinecker hat erst vor kurzem auf Tele Züri klar für die EU-Verträge Stellung bezogen.

Annette Luther, Vizepräsidentin von Scienceindustries, Präsidentin von Swissholdings und Chefin Roche-Länderbeziehungen.
Foto: Thomas Meier

Roche scheint diesbezüglich ein Vorbild zu sein. Damit stehen er und Simon Michel von Ypsomed aber fast allein da. Erinnern Sie sich an die Abstimmung zur Konzernverantwortungs-Initiative? Kaum ein Konzernmanager stand hin und sagte, warum die Initiative abzulehnen sei.
Es gibt sicherlich solche mit einem Expat-Arbeitsvertrag, die nach ein paar Jahren wieder weiterziehen. Das ist so. Ich erlebe in meinem Umfeld sehr viel Zuspruch für die EU-Verträge, und dieser wird auch öffentlich geäussert.

Der Aargauer Grossunternehmer Hans-Peter Zehnder, ein EU-Vertragsgegner, sagte, dass in etlichen Schulen zu viele ausländische Kinder seien. Dass das Mass der Zuwanderung überschritten worden sei. Was sagen Sie ihm?
Der Grund für die vielen ausländischen Arbeitskräfte ist nicht die Personenfreizügigkeit mit der EU, sondern, dass unsere Wirtschaft floriert. In der Schweiz lässt sich leider nicht genug qualifiziertes Personal finden, sodass Schweizer Firmen im Ausland rekrutieren müssen. Das gilt nicht nur für die Konzerne, sondern auch für Restaurants und Hotels, das Baugewerbe, für Spitäler und Praxen und in der Verwaltung. Gerade das britische Beispiel zeigt: Nach dem Brexit sind dreimal mehr Leute in den dortigen Arbeitsmarkt eingewandert als zuvor, mit dem Unterschied, dass diese mehrheitlich aus Asien statt Europa stammen. Will das die Schweiz?

Was sind die abschreckenden Lehren aus dem Brexit?
Grossbritannien geht es nicht besonders gut. Das Land hat neben der Migrationswelle gleichzeitig an Wirtschaftskraft verloren, weil es höhere Hürden im Handel mit den EU-Ländern zu verdauen hat. Britische Firmen müssen bei jedem Exportprodukt beweisen, dass es EU-konform ist. Eine Schätzung von Goldman Sachs zeigt, dass das britische Wirtschaftswachstum circa 5 Prozent stärker gewesen wäre, hätten die Briten den Binnenmarkt nicht verlassen. Wirtschaftlich war der Brexit kein Erfolgsmodell.

Die Schweizer Wirtschaft befeuert die Einwanderung. Jetzt gibt es Kreise, aus denen verlautet: Dann drosseln wir halt die Wirtschaft. Mancherorts wird die kantonale Standortförderung hinterfragt. Eine gute Strategie?
Dies hätte einen klaren Wohlstandsverlust und einen Abbau von Arbeitsplätzen zur Folge. Ich glaube nicht, dass die Schweizer Bevölkerung bereit ist, auf Wohlstand zu verzichten. Eine schrumpfende Wirtschaft brächte das Land in eine sehr schwierige Lage.

Die EU-Gegnerschaft sagt, dass selbst bei einer Ablehnung des Vertragspakets die bilateralen Verträge weiter Gültigkeit hätten. Teilen Sie diese Einschätzung?
Nein. Ohne neue Verträge werden die Beziehungen und unser Handel mit der EU schwieriger. Was mich ärgert, ist die Behauptung der Gegner, dass das Vertragspaket nur negative Auswirkungen auf die Schweiz habe. 

Haben Sie mit Frau Martullo-Blocher darüber gesprochen?
Natürlich. Wir pflegen im Vorstand einen kollegialen Umgang und respektieren andere Meinungen. Frau Martullo hat in dieser Sache eine Haltung, die sich nicht mit der Mehrheitsmeinung im Vorstand von Scienceindustries deckt.

Trump heizt den Steuerwettbewerb an und will Firmen mit tiefen US-Bundesgewinnsteuern anziehen. Haben Sie von Schweizer Konzernen gehört, die eine Umsiedlung in die USA erwägen?
Laufend investieren Firmen in den USA, das ist überhaupt nichts Neues. Was die Zukunft angeht, muss man sehen, was genau passieren wird.

Die OECD-Mindeststeuer war ein Projekt, um diesen Wettbewerb einzudämmen. Jetzt ist er zurück. Selbst Ihr Arbeitgeber, Roche, wird sich überlegen müssen, an welchem Standort tiefere Steuern bezahlt werden.
Eine Überraschung ist es nicht. Schon unter Joe Biden haben die USA einen Weg gefunden, die OECD-Mindeststeuer zu vermeiden. Jetzt hat die neue Regierung diesen Weg bekräftigt und Ansprüche auf eine Höherbesteuerung, wie es die EU für bestimmte Fälle macht, abgelehnt. Damit hat man die EU herausgefordert.

Die Schweiz aber nicht?
Die Schweiz hat die OECD-Mindeststeuer eingeführt. Sie hat sich damit der EU angepasst. Aber sie setzt die Regeln pragmatisch um: Sie fordert keine Zusatzbesteuerung von US-Firmen, die weder in der Schweiz sind noch eine Schweizer Tochtergesellschaft halten. Eine vollständige Abschaffung der OECD-Mindeststeuer sehe ich dennoch nicht. Ein Schweizer Alleingang in der jetzigen Situation wäre nicht sinnvoll. Man muss beobachten, wie sich die US-Ankündigungen gegenüber der EU entwickeln.

Trumps Kurs zu tolerieren, führt zu ungleichen Spiessen in der Besteuerung. Schweizer Konzerne werden benachteiligt sein im Vergleich zu US-Konzernen, die ihre Gewinne tiefer besteuern.
Bereits in der Vergangenheit war die US-Besteuerung grossen Schwankungen unterlegen. In der Schweiz sollten wir Ruhe bewahren. Die meisten Unternehmen in den USA zahlen mehr als die Mindeststeuer von 15 Prozent.

Wettbewerbsverzerrung wird auch durch die Klimavorschriften zum Problem. Wenn US-Konzerne keine Einschränkungen haben, die schweizerischen aber C02-Abgaben leisten und Kosten zur Dekarbonisierung stemmen müssen, dann sind sie massiv benachteiligt.
Dieses Thema ist im Gang. Genau deshalb hat Brüssel signalisiert, die Klimaregeln, die als bürokratisch gelten, zu überholen. Der Klimawandel ist real. Ich glaube nicht, dass wir uns von diesen Klimamassnahmen und -zielen distanzieren können.

Sie arbeiten bei Roche. Nehmen Sie privat manchmal Alternativmedizin?
Ich bin Apothekerin. (lacht) Ich nehme sehr wenig Alternativmedizin, nur gewisse Tees.

Wo sind Sie aufgewachsen?
Ich bin in einem Vorort von Freiburg in einer französischsprachigen Gemeinde aufgewachsen. In Freiburg begann ich auch, Pharmazie zu studieren, schloss mein Studium dann in Basel mit einem Doktorat in Biomedizin ab.

Was haben Sie aus Freiburg mitgenommen?
Als deutschsprachiges Kleinkind habe ich im Kindergarten die französische Sprache erlernt. Dort habe ich schon früh gelernt, dass es ganz unterschiedliche Kinder gibt, die unterschiedliche Sprachen sprechen. Das hat mich fasziniert.

Haben Sie ein Privatleben mit all Ihren beruflichen Funktionen?
Ja, das habe ich. Man muss zwischendurch abschalten können. In der Freizeit verbringe ich sehr gerne in der Natur und bin begeisterte Skifahrerin und Langläuferin.

Wo brennt Ihre Leidenschaft?
Mir gefällt die Innenarchitektur. Abseits des Berufs habe ich mich darin weitergebildet und einen Abschluss gemacht – als Hobby.

Die Hobby- und Baumärkte sind Ihr zweites Zuhause?
(lacht) Tatsächlich bin ich da hin und wieder anzutreffen. Dasselbe gilt für meinen Ehemann.

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