Herr Wider, die SVP fordert den Bau neuer Kernkraftwerke und auch die FDP verlangt, das Bauverbot für AKW zu kippen. Erleben wir gerade den Ausstieg aus dem Atomausstieg?
Michael Wider: Das Volk hat 2017 entschieden, dass in der Schweiz keine neuen Kernkraftwerke gebaut werden. Das ist ein Fakt. Nun kann man über alles diskutieren. Nur müssen wir für die Versorgungssicherheit wichtige Entscheide fällen, und es wäre wirklich zu bedauern, wenn die Diskussion über die Kernenergie diesen Prozess weiter verzögert.
Aber Suzanne Thoma, Chefin der BKW, erklärte jüngst im «Bieler Tagblatt», der Ausstieg 2017 sei zu wenig durchdacht gewesen. Teilen Sie ihre Einschätzung?
Ein Technologie-Verbot ist nie eine gute Entscheidung. Das ist meine Meinung. Aber selbst wenn man heute ein neues AKW bauen wollte, dauert das zu lange. Für die anstehenden Versorgungsengpässe könnte es keinen Beitrag leisten.
Sie schliessen also nicht aus, dass dereinst ein neues AKW in der Schweiz gebaut werden könnte?
Ausschliessen sollte man nie etwas. Eine neue Generation der Kraftwerke müsste die Schwächen der alten ausmerzen: Kernschmelze und Entsorgung der Abfälle. Es wird viel geforscht, spruchreif sind die Technologien noch nicht.
Die EU ist aber dabei, Atomstrom als grüne Energie zu etikettieren.
Auf die Schweiz färbt diese Debatte nicht ab. Atomenergie ist keine erneuerbare Energie. Aber sie stösst kein CO2 aus. Das ist ein Vorteil.
Ein Drittel der Schweizer Stromproduktion stammt heute aus der Kernenergie und soll Schritt für Schritt reduziert werden. Gleichzeitig muss der CO2-Ausstoss massiv zurückgeschraubt werden. Sind diese Ziele überhaupt vereinbar?
Es kann aufgehen, aber eine fixfertige Lösung gibt es nicht. Die AKW laufen, so lange sie sicher und wirtschaftlich sind. Klar ist: Es braucht einen rascheren Zubau von erneuerbaren Energien, einen Ausbau der Wasserkraft und weitere Massnahmen für die Wintermonate. Denn dann produzieren wir momentan zu wenig Energie. Dabei darf die Energieeffizienz nicht vergessen gehen, da hat die Schweiz noch viel Potenzial. Das sind lauter Puzzlesteine, die notwendig sind, um die Versorgungssicherheit zu stärken.
Gemeinsam mit Bundesrätin Sommaruga haben die Kantone, Stromproduzenten und Umweltverbände 15 Wasserkraft-Projekte ausgemacht, die zügig realisiert werden sollen. Wird das bereits ausreichen?
Es war richtig und wichtig, sich auszutauschen. Aber das ist nicht das Ende der Fahnenstange.
Die Versorgungssicherheit ist aber ein drängendes Problem.
Jetzt müssen Taten folgen. Wir sind nicht gerade die Geschwindigkeits-Champions. Aber so ist unsere föderalistische Demokratie, Verfahren und Einsprachen bremsen uns aus. Keines dieser Projekte wird 2025 fertig. Wir schieben so die Zukunft vor uns her. Wenn wir die absehbaren Lücken in der Versorgung nicht mit erneuerbaren Energien füllen können, wird das zu weniger attraktiven Lösungen führen.
Heisst: Es braucht Gaskraftwerke?
Das ist bei Engpässen nicht ausgeschlossen. Bloss käme die Schweiz damit sogleich in neue Abhängigkeiten.
Wobei die Schweiz ihre eigene Position schwächt. Ein Stromabkommen mit der EU ist nach dem Aus für das Rahmenabkommen nicht absehbar. Wie macht sich das bemerkbar?
Die Schweiz liegt nicht irgendwo am Rande, sondern ist mittendrin im europäischen Netz. Aber wir sitzen nicht mehr mit am Tisch, wenn die Europäer sich in den Planungsgremien absprechen. Wir reagieren zuweilen nur noch auf die Entscheide, die andernorts fallen. Das destabilisiert.
Der Bund wiederum warnt bereits für den Winter 2025 vor Engpässen. Bleibt genügend Zeit, dieses Szenario abzuwenden?
Ja. Die Speicherkraftwerke in den Alpen können für die kritischen Monate von Februar bis April Wasser zurückhalten. Damit lässt sich in der Zeit des Jahres Energie produzieren, in welcher der Strom heute knapp ist. Die Ideen sind da, die Ansätze stimmen. Aber eben, was fehlt, ist das Tempo.
Zugleich überschlägt sich der Strommarkt. Über die Festtage gingen die Preise durch die Decke. Warum?
Wenn Putin verschnupft ist, steigen die Unsicherheit und die Preise. Diese Lage ist ernst.
Der russische Präsident ist der Kostentreiber?
Die Drohungen gegen die Ukraine haben den Markt verunsichert. Kam hinzu, dass China und Indonesien massiv fossile Energien kauften, Deutschland AKW ausser Betrieb nahm und in Frankreich 15 AKW nicht am Netz waren. Diese Faktoren führten zu einem rasanten Preisanstieg. Während die Endkunden vielleicht acht Rappen pro Kilowattstunde zahlen, zahlten die Unternehmen am Grosshandelsmarkt zeitweise bis zu 70 Rappen. Wir sind am Vortag einer möglichen europäischen systemischen Energiekrise.
Darum sah sich Alpiq gezwungen, beim Bund um Hilfe nachzufragen?
Firmen, die Energie produzieren und mit ihr handeln, verkaufen Strom im Voraus, setzen also den Preis vor der Lieferung fest. Wer an einer Strombörse Strom verkauft, muss den Nachweis erbringen, über genügend Liquidität zu verfügen, um bei einem Ausfall sofort Ersatz beschaffen zu können. Jetzt können Sie sich vorstellen: Wenn sich der Preis über Nacht verzehnfacht, muss plötzlich das Zehnfache an Liquidität bereitstehen. Bei sehr vielen Energieunternehmen in Westeuropa war die Lage angespannt.
Und wann müssen die Konsumenten mit höheren Preisen rechnen?
So schnell geht das nicht. In der Grundversorgung ist der Preis reguliert und für ein Jahr festgelegt. Das verzögert die Umwälzung auf die Konsumenten. Bleiben die Handelspreise so hoch, dürfte die Preiserhöhung aber spürbar werden.