Politikwissenschaftler Gilbert Casasus im Interview zum EU-Deal
«Versucht die Schweiz heimlich, ein neues Abkommen zu verhindern?»

Gilbert Casasus war lange Zeit Professor für Europastudien an der Universität Freiburg. Für den in Bern ansässigen Experten verbirgt sich hinter der Schweizer Forderung nach einer Schutzklausel möglicherweise der Wille, die Verhandlungen zu begraben.
Publiziert: 19.10.2024 um 17:26 Uhr
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Aktualisiert: 19.10.2024 um 18:04 Uhr
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Die Schweiz (im Bild Bundespräsidentin Viola Amherd, links) verhandelt mit der EU um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Foto: ALESSANDRO DELLA VALLE

Auf einen Blick

  • EU lehnt Schutzklausel für Schweizer Freizügigkeit ab
  • Schweizer Demokratie durch Referenden, EU durch repräsentative Demokratie geprägt
  • Euroskepsis in der Schweiz und EU-Mitgliedsländern nimmt zu
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Richard Werly

Die EU will keine Schutzklausel für die Schweiz im Bereich der Freizügigkeit. Bedeutet das, dass die aktuellen Gespräche – nach mehr als 100 Verhandlungsrunden – zum Scheitern verurteilt sind? Der Politikwissenschaftler Gilbert Casasus (68) schliesst dies im Gespräch mit Blick nicht aus.

Herr Casasus, die 27 EU-Mitgliedstaaten weigern sich, der Schweiz eine Schutzklausel für die Freizügigkeit einzuräumen. Ist das nicht ein inakzeptabler Druck auf ein Drittland, das nicht Mitglied der EU ist?
Gilbert Casasus:
Man könnte sich auch fragen, ob es einen ungeschickteren Weg gibt, als von Anfang an zu verlangen, dass das Prinzip der Personenfreizügigkeit grundsätzlich infrage gestellt wird. Ich frage mich ehrlich gesagt, ob die Schweizer Regierung mit ihrer Forderung nach einer Schutzklausel vielleicht heimlich versucht, ein neues Abkommen zu verhindern. Ob wir es mögen oder nicht: Die EU kann einem Drittland wie der Schweiz keine Sonderregelung gewähren, wenn sie nicht bereit oder in der Lage ist, dies auch für ihre eigenen Mitgliedstaaten zu tun. Die Freizügigkeit von Personen und Arbeitnehmern ist nicht nur eine rechtliche, sondern vor allem eine politische Frage.

Und doch: Die Schweiz ist kein EU-Mitglied, und ihr Zugang zum europäischen Binnenmarkt wird auch im Falle eines Abkommens beschränkt bleiben ...
Was solls? Es gibt klare Regeln. Im gemeinsamen Dokument von Ende 2023, dem «common understanding», auf das sich die Schweizer und europäischen Diplomaten geeinigt haben, wurde keine Schutzklausel erwähnt. Das lässt darauf schliessen, dass die Schweiz immer noch versucht, die vereinbarten Regeln zu ändern.

Die politische Realität in der Schweiz ist allerdings klar: Jedes bilaterale Abkommen mit der EU, das keine solche Schutzklausel enthält, wird wahrscheinlich vor dem Volk scheitern.
Eine wichtige Frage. Aber warum sollten unsere europäischen Nachbarn auf unsere speziellen politischen Strukturen Rücksicht nehmen? In der Schweiz gibt es direkte Demokratie mit Referenden und Initiativen. In den Nachbarländern dagegen herrscht vor allem repräsentative Demokratie, die nicht weniger demokratisch ist. Manche unserer Nachbarn sehen in unserem System sogar ein Problem. Sie kritisieren, dass es auf Bundesebene keinen echten politischen Wechsel gibt. Für sie wirkt die Zauberformel wie ein Trick, und ohne Wechsel gibt es ihrer Meinung nach keine echte Demokratie. Diese Sonderstellung der Schweiz, ihre Reduit-Mentalität und ihr Anti-Europa-Kurs haben ihren Preis.

Trotzdem wird auf beiden Seiten der Wille bekräftigt, bis Ende dieses Jahres ein neues Paket bilateraler Abkommen abzuschliessen. Ist das möglich?
Das aktuelle politische Klima ist nicht günstig für ein neues Abkommen mit der EU. Wie in vielen EU-Ländern wächst auch in der Schweiz die Euroskepsis, und die Gegner Europas gewinnen an Einfluss. Die Kompass-Initiative, die das neue Rahmenabkommen zwischen Bern und Brüssel ablehnt, hat gute Chancen auf Erfolg. Sie wird von wichtigen Persönlichkeiten unterstützt und erinnert an die Initiativen von 1992, als der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum scheiterte. Heute gibt es jedoch niemanden mehr, der die europäische Idee so verteidigt wie damals die Bundesräte Delamuraz, Felber und Ogi. Wir werden sehen, ob sich die Geschichte wiederholt ...

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