Die Thesen von Kompass Europa im Faktencheck
Wer hat recht im Kampf um die EU-Verträge?

Alfred Gantner von Kompass Europa hält die bilateralen Verträge für nutzlos, die dynamische Rechtsübernahme sei gefährlich. Was ist da dran?
Publiziert: 15.10.2024 um 13:12 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2024 um 14:14 Uhr
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Alfred Gantner von Kompass Europa hält die bilateralen Verträge für nutzlos.
Foto: keystone-sda.ch

Auf einen Blick

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Holger Alich
Handelszeitung

Sie ist die heisseste Streitfrage der Schweizer Wirtschaftspolitik: Wie viel Souveränität soll die Schweiz aufgeben, um den Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten? Die Verhandlungen mit der EU zu einem neuen Vertragspaket sind laut diversen Quellen auf der Zielgeraden. Ein Kernelement des Vertrags wird sein, dass die Schweiz bei den fünf geltenden Marktzugangsabkommen und drei neuen Abkommen EU-Recht übernehmen soll.

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Dagegen opponieren die Initianten von Kompass Europa. Mitbegründer Alfred Gantner warnt: Die angepeilte dynamische Rechtsübernahme sei eine gefährliche Blackbox. Er stellte im Interview mit der «Handelszeitung» den Nutzen der Verträge für die Schweiz grundsätzlich in Abrede: Die Schäden – etwa aus der hohen Zuwanderung – seien längst grösser als der Nutzen.

Die «Handelszeitung» hat Gantners Kernthesen einem Faktencheck unterzogen.

These 1: Die EU kann einseitig neue Gesetze wie die Lieferketten-Regulierung für binnenmarktrelevant erklären und so der Schweiz aufdrücken

Gantner sagt: «Die EU kann jederzeit Dinge hinzufügen. Und kann zum Beispiel erklären, dass die Lieferkettengesetzgebung binnenmarktrelevant ist. Und dann müsste die Schweiz das übernehmen.» Die EU-Lieferketten-Richtlinie legt Unternehmen umfangreiche Risikoanalysen und Berichtspflichten auf, damit Zulieferer Menschenrechte und Umweltschutz achten.

Kann die EU dies der Schweiz aufdrücken? Nein, das stimmt so nicht. Das sagen übereinstimmend die Basler Professorin für Europarecht Christa Tobler, das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und Jan Atteslander, Bereichsleiter Aussenhandel bei Economiesuisse.

«Da die Schweiz nur zum Teil beim EU-Binnenmarkt mitmacht, kann es im Rahmen einer dynamischen Rechtsübernahme nicht darum gehen, ob eine neue EU-Regelung allgemein ‹binnenmarktrelevant› ist», erklärt Tobler. «Entscheidend ist vielmehr, ob sie in den Anwendungsbereich eines konkreten bilateralen Abkommens fällt.» So argumentiert auch das Seco.

Im konkreten Beispiel: Die EU-Lieferkettengesetzgebung müsste die Schweiz im Zuge der dynamischen Rechtsübernahme nur dann übernehmen, wenn sie in den Anwendungsbereich eines der Schweizer Marktzugangsabkommen fällt. Laut Seco trifft das bei der Lieferketten-Richtlinie aber nicht zu: «Diese Richtlinie fällt nicht in den Anwendungsbereich eines der Binnenmarktabkommen Schweiz-EU.» Folglich muss die Schweiz sie also nicht übernehmen.

Auf der Website von Kompass Europa findet sich dazu eine Entgegnung: Die dynamische Rechtsübernahme träfe nicht nur die fünf bestehenden und drei in Verhandlung befindlichen Abkommen. Sondern eben alle künftigen Binnenmarktabkommen. «Das bedeutet, dass wir zum heutigen Zeitpunkt gar noch nicht wissen, in welchen Abkommen künftig dynamisch Recht übernommen werden muss.»

Im Kern dreht sich dieser Punkt um die Frage, wie genau definiert ist, ob neues EU-Recht für ein Abkommen mit der Schweiz relevant ist. Dazu erklärt Europarechtsexpertin Tobler: «Ob neues EU-Recht abkommensrelevant ist, ist eine rechtliche Frage, die von allen Parteien eines Abkommens beurteilt werden muss.» Die EU bilde sich hierzu im Gesetzgebungsprozess eine Meinung, die Schweiz habe ein Mitspracherecht im Anwendungsbereich der bilateralen Abkommen.

Kommt es zum Streit, soll in einem zweiten Schritt der gemischte Ausschuss der EU und Schweiz die Frage klären, ob neues EU-Recht in der Schweiz zur Anwendung kommt. «Dieser zweite Schritt ist entscheidend», so Tobler. «Ohne eine Einigung im Gemischten Ausschuss gibt es keine Rechtsübernahme in den bilateralen Abkommen.»

These 2: Schweizer KMU haben nichts von den EU-Verträgen

Gantner sagt: «Keiner der fünf bestehenden EU-Verträge bringt den Schweizer KMU irgendeinen Vorteil.» Er verweist auf den Unterschied zwischen «Marktzugang» und «privilegiertem Marktzugang». Den ersten behalte die Schweiz in jedem Fall, dieser ist durch bestehende Freihandelsabkommen und WTO-Vereinbarungen gesichert. Das heisst: Die Exportzölle bleiben tief oder sie sind gleich null.

Die fünf EU-Abkommen sicherten der Schweiz dagegen einen privilegierten Marktzugang, unter anderem durch gegenseitige Anerkennung von Normen. Doch das funktioniere in der Praxis nicht, sagt Gantner. Ein Exporteur müsse alles «doppelt und dreifach» in EU-Ländern zertifizieren.

Auch in diesem Punkt widersprechen das Seco und Economiesuisse. «Die gegenseitige Anerkennung von Normen und Zertifizierungen spart Schweizer KMU Millionen an Kosten», sagt Atteslander. Das Seco betont, dass der Wegfall der Bilateralen und damit Rückfall auf ein reines Freihandelskommen von 1972 «einen klaren Rückschritt»für die Schweizer Wirtschaft bedeuten würde. Die gegenseitige Anerkennung von Normen erleichterten heute vor allem KMU den Marktzugang in die EU. Warum? Weil sie kein eigenes Geld haben, um sich in der EU niederzulassen.

Das Seco rechnet vor: Das Abkommen zur gegenseitigen Normenanerkennung umfasst zwanzig Produktsektoren. «Im Jahr 2023 deckten diese zwanzig Sektoren rund zwei Drittel des Handels mit Industrieprodukten zwischen der Schweiz und der EU ab.» Das entspricht einem Exportvolumen von über 96 Milliarden Franken, das sind 72 Prozent aller Industrieexporte in die EU.

Vom Abkommen profitieren aber auch Industrieimporte im Volumen von 94 Milliarden Franken, das sind 64 Prozent aller Industriegüterimporte. Diesen Punkt betont auch Economiesuisse: «Die Schweizer Baubranche profitiert davon, in der EU zugelassenes Baumaterial, ohne erneute Zertifizierung direkt einkaufen zu können, zum Beispiel Armierungen. Fiele das weg, würde das Bauen teurer.»

Zudem würden auch KMU vom Abkommen zur Personenfreizügigkeit profitieren, denn der Schweizer Arbeitsmarkt sei weitgehend ausgetrocknet. Offenbar schätzen auch KMU selbst die Verträge als wichtig ein. So ist laut dem jüngsten KMU-Monitor der NZZ das ungeklärte Verhältnis zur EU zur zweitgrössten Sorge aufgestiegen, so Atteslander.

These 3: Die EU-Abkommen bringen der Schweiz insgesamt ökonomisch nichts

Gantner sagt: «Das zusätzliche Lohnwachstum der heutigen bilateralen Verträge pro Kopf beträgt lediglich 0,04 Prozent pro Jahr. Das entspricht rund 35 Franken pro Person im nächsten Jahr. Wir verkaufen nicht unsere Standortvorteile und unsere direktdemokratischen Rechte für eine Pizza mit Getränk!»

Seine Zahlen stammen aus einer Ecoplan-Studie aus dem Jahr 2015, welche die Folgen eines Wegfalls der bilateralen Verträge analysiert. Das Seco bestätigt die Zahlen, weist aber darauf hin, dass die Effekte auf die Löhne nur ein Teil der Wahrheit sind. «Ein Wegfall der Bilateralen I hätte auch Auswirkungen auf die Kapitaleinkommen.»

Bezieht man die Kapitaleinkommen mit ein, sieht die Rechnung ganz anders aus: Laut der von Gantner zitierten Ecoplan-Studie würden die Einkommen der Schweizer Bevölkerung nach 17 Jahren um 1894 Franken pro Kopf tiefer ausfallen als mit den Bilateralen I. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) fiele damit pro Kopf um 1,5 Prozent tiefer aus. Laut der Studie würde das BIP bis zum Jahr 2035 insgesamt um 460 bis 630 Milliarden Franken tiefer ausfallen – das entspricht ungefähr einem Jahres-BIP der Schweiz.

Economiesuisse-Experte Atteslander merkt dazu an, dass die ökonomischen Effekte eines Wegfalls der bilateralen Verträge nur schwer zu berechnen seien. Interessant in diesem Kontext sei eine Studie der deutschen Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019: Diese kam zum Schluss, dass die Schweiz mit einem positiven Effekt von 2914 Euro pro Kopf und Jahr von allen Ländern am meisten vom EU-Binnenmarkt profitiert. Atteslander: «Zu behaupten, dass die Schweiz ökonomisch keinen Vorteil aus den bilateralen Verträgen bezieht, scheint mir vor diesem Hintergrund ohne Fundament zu sein.»

Fazit: Die drei Kernbehauptungen Gantners, der sich im HZ-Interview auf ein Argumentarium von Kompass Europa bezieht, stimmen laut Wirtschafts-und Rechtsexperten nicht.

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