Auf einen Blick
- EU und Schweiz müssen Verhandlungen bis Jahresende abschliessen
- Frankreich erhöht Druck auf die Schweiz für Lösungen
- EU-Mitgliedstaaten bewerten die Situation am 15. Oktober erneut
Als Ursula von der Leyen (65) am vergangenen Dienstag nach Genf reiste, tat sie das nicht nur, um am CERN über Atome zu sprechen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission hatte auch ein brisantes Dossier zu den bilateralen Verhandlungen im Gepäck. Das Memo der Kommission – das Blick einsehen konnte – zeigt: Die Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz über die bilateralen Abkommen drohen zu scheitern, wenn die Schweiz auf einer einseitigen Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit beharrt. Für die EU ist dies nämlich «ein Schritt zu weit».
Diese Haltung war am Montag in Brüssel von den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Bedingung für den Abschluss der Verhandlungen mit Bern bis Ende des Jahres bestätigt worden.
Drei Schlüsselbotschaften der EU
Laut dem Dokument, das Blick einsehen konnte, hat die Kommission dem diplomatischen Team der Schweiz drei Schlüsselbotschaften übermittelt.
- Die Schweiz und die EU sollen die Verhandlungen bis Ende Jahre abschliessen. «Die Fortschritte sind so gross, dass eine Einigung vor Ende des Jahres realistisch ist», heisst es.
- Nein zur einseitigen Schutzklausel. Ein Hindernis ist die Personenfreizügigkeit, ein Herzstück des Pakets. Man habe sich auf gemeinsame Landezonen geeinigt. «Die Schweiz hat jedoch eine einseitige Schutzklausel beantragt, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Die Kommission war so konstruktiv wie möglich, um Ausnahmen vom Recht auf Freizügigkeit zu finden, aber die einseitige Schutzklausel ist ein Schritt zu weit.» Das ist praktisch eine Absage.
Das Aussendepartement (EDA) sagt gegenüber Blick: «Die Verhandlungen werden in einem intensiven Rhythmus fortgesetzt, auch im Bereich der Zuwanderung. Die Schweiz möchte die Verhandlungen so schnell wie möglich abschliessen, aber die Qualität des Ergebnisses hat Vorrang vor der Geschwindigkeit des Prozesses.» - Wie viel Geld muss die Schweiz bezahlen? Dabei geht es um die sogenannte Kohäsionsmilliarde. «Die Kommission möchte so schnell wie möglich Klarheit über den ersten Beitrag erhalten und ist besorgt, dass die Schweiz diese Frage am Ende des Prozesses belassen möchte.» Das bedeutet: Die Schweiz wird der EU Geld zahlen müssen, und zwar nicht bloss einmalig. Die Höhe des Beitrags muss ausgehandelt werden. «Geld ist auch ein Beweis für den Willen, eine solide und dauerhafte Beziehung aufzubauen», sagt ein EU-Diplomat.
Frankreich macht Druck
Mit Frankreich hat nun ein grosses EU-Land in diesem Memo Druck gemacht. Gemäss Blick-Informationen ist Frankreich der Ansicht, dass ein bilaterales Abkommen zwischen der Schweiz und der EU bis Ende 2024 «nur möglich ist, wenn die Schweiz Lösungen für die erwähnten Fragen bietet».
Paris hat die Ohrfeige der Schweiz von 2021 nicht verdaut, als der Bundesrat einen Entwurf des institutionellen Abkommens ablehnte: «Die Kommission muss bei den Verhandlungen Vorsicht walten lassen, um nicht zuzulassen, dass die Schweiz das im gemeinsamen Abkommen festgelegte Gleichgewicht zerstört», argumentierten französische Diplomaten. Laut Informationen, die Blick von mindestens zwei Mitgliedstaaten erhalten hat, fordert die Europäische Kommission «substanzielle Fortschritte», um zu einem Abschluss zu kommen.
«Konstruktiver Austausch»
Ursula von der Leyen sprach am Dienstag mit Bundespräsidentin Viola Amherd (62) am CERN über das EU-Dossier. Ein Sprecher des Schweizer Aussendepartements sagt, dass das Treffen «in einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens» stattgefunden habe und «sehr konstruktiv» gewesen sei. Die beiden Präsidentinnen hätten festgestellt, dass «die Verhandlungen gut vorankommen, aber noch einiges zu tun bleibt».
Die EU-Mitgliedstaaten werden die Schweiz-EU-Frage wohl am 15. Oktober erneut bewerten. Die Zeit drängt also.
Mitarbeit: Solenn Paulic