Politiker fordern Konsequenzen
Geheimdienst spioniert uns wohl alle aus

Vor der Abstimmung über das Nachrichtendienstgesetz 2016 versicherte der Bundesrat, dass es keine umfassende Überwachung der Bevölkerung geben würde. Nur: Das scheint nicht zu stimmen.
Publiziert: 09.01.2024 um 20:06 Uhr
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Aktualisiert: 09.01.2024 um 23:02 Uhr
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Im September 2016 wurde das Nachrichtendienstgesetz (NDG) angenommen. Dadurch erhielt der Schweizer Geheimdienst, der NDB, unter anderem die Möglichkeit, die Kommunikation über Glasfaserkabel zu überwachen.
Foto: Keystone

Im September 2016 stimmten die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger über das Nachrichtendienstgesetz (NDG) ab. Dieses hatte eine effizientere Terrorabwehr zum Ziel. Eine der gewichtigsten Änderungen der Gesetzesrevision betraf die sogenannte Kabelaufklärung. Durch sie erhält der Schweizer Geheimdienst, der NDB, die Möglichkeit, die Kommunikation über Glasfaserkabel zu überwachen.

Die Jungsozialisten und die SP gingen zusammen mit den Grünen und der Piratenpartei damals deswegen auf die Barrikaden. Sie warnten vor einem «Schnüffelstaat» und «Fichenstaat 2.0». Vergebens. Das überarbeitete Gesetz wurde klar angenommen – mit 65,5 Prozent.

Der Bundesrat um den damaligen VBS-Vorsteher Guy Parmelin (64) versprach im Vorfeld der Abstimmung damals, eine umfassende Überwachung der Bevölkerung durch den Nachrichtendienst des Bundes sei nicht geplant. Weder im In- noch im Ausland.

Grossflächige Überwachung

Nun zeigen Recherchen des Online-Magazins «Republik» jedoch: Der Bundesrat hat sein Versprechen nicht eingehalten. Seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2017 wird der Internetverkehr von Schweizerinnen und Schweizern in grossem Umfang mitgelesen. Offizielle Dokumente, die dem Medium vorliegen, bestätigen, dass die inländische Kommunikation durchgesehen und analysiert wird, und Daten auch für spätere Anfragen lange gespeichert werden.

Somit hat der Bundesrat die Bürger nicht nur fehlinformiert und sie unter falschen Voraussetzungen über das Gesetz abstimmen lassen. Auch die Grundrechte der in der Schweiz lebenden Menschen dürften verletzt werden – so der Schutz der Privatsphäre.

Auch ob für Ärztinnen und Anwälte das Berufsgeheimnis gewahrt werden kann, ist höchst fraglich. Gleiches gilt für den Quellenschutz für Journalisten. Wenn Patienten, Klienten und Informanten nicht sicher sein können, dass heikle Informationen von ihnen und über sie geschützt sind, ist das Vertrauensverhältnis zu ihnen massiv gestört. Eben genau, weil deren Kommunikation unter bestimmten Bedingungen an den Nachrichtendienst weitergeleitet werden könnte.

Und funktioniert denn die vielfach geforderte Digitalisierung wie beispielsweise die Schaffung eines elektronischen Patientendossiers, wenn alle Krankenversicherten damit rechnen müssen, dass der Geheimdienst mitliest?

Kritische Politiker fühlen sich in ihrer ablehnenden Haltung nun bestätigt. Sie fordern jetzt eine eingehende politische Aufarbeitung der mutmasslichen Missstände beim NDB. Der IT-Unternehmer und Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey (47) ist nur bedingt erstaunt, über die nun publik gewordenen Informationen. Schliesslich hatte ja unter anderem just seine Partei bereits 2016 vor genau dieser drohenden Massenüberwachung gewarnt.

«Schaden grösser als Erkenntnisgewinn»

Andrey wundert sich jedoch über das Ausmass des Lauschangriffs auf die Schweizer Bevölkerung ohne jeglichen Anfangsverdacht. Dass die Bürgerinnen flächendeckend überwacht werden, erinnert stark an die Fichenaffäre, die 1989 aufflog und im März 1990 Tausende auf dem Berner Bundesplatz demonstrieren liess.

Für Andrey ist deshalb nun klar: «Der Schaden, der damit in der Bevölkerung angerichtet wird, ist weit grösser, als der tatsächliche Erkenntnisgewinn für den NDB.» Der Grünen-Politiker ortet hier auch ein demokratiepolitisches Problem: «Die Schweizer Bevölkerung muss sich auf die Informationen des Bundesrats verlassen können, wenn dieser eine Gesetzesrevision vertritt.»

Wir in der Schweiz lebten nicht in einem Land, in dem der Staat willkürlich alles mithören dürfe, kritisiert auch SVP-Natinalrat und ITler Mauro Tuena (51) das Vorgehen des Geheimdienstes. «Es gibt keinen Grund dazu, alle Bürgerinnen und Bürgern unter Generalverdacht zu stellen.» Allerdings müsse der Nachrichtendienst dann innerhalb der Gesetzgebung handeln können, wenn irgendein Verdacht im Raum stünde – bei Terrorismus, Menschen- und Drogenhandel, organisierte Kriminalität etwa.

Bei der Piratenpartei zeigt man sich gar entsetzt über das Ausmass der Überwachung. «Die Lügen von Bundesrat Parmelin haben die Demokratie beschädigt», sagt sie. In einer Medienmitteilung fordert sie: «Das muss Konsequenzen haben.»

Thema soll ins Parlament

Für Lügen im Abstimmungskampf könne man die Verantwortlichen allerdings nicht belangen, sagt Martin Steiger. Er ist Anwalt für Recht im digitalen Raum und Sprecher der Digitalen Gesellschaft. Diese hat – quasi zugunsten aller Menschen in der Schweiz – bereits 2017 eine strategische Klage gegen die Anwendung der Kabelaufklärung eingereicht, die derzeit beim Bundesverwaltungsgericht hängig ist.

Inzwischen wird eine erneute Revision des Gesetzes geplant. Verbesserungen dürfte es jedoch keine bringen. Es wird erwartet, dass die umstrittene Ausweitung der Kabelaufklärung einfach beibehalten wird – oder schlimmer: Dass die heutige Praxis der umfassenden Überwachung der Bevölkerung einfach nachträglich legalisiert wird.

Dem wollen verschiedene Parlamentsmitglieder nun aber einen Riegel schieben: Das Thema habe mit dem «Republik»-Artikel eine neue Dringlichkeit erhalten, sagt der Nationalrat und einstige grüne Bundesratskandidat Andrey. Er will darum zusammen mit anderen Politikern im Parlament gegen die Überwachungspraxis, mit Anträgen in den Sicherheitskommissionen oder über Einzelvorstösse während der nächsten Session, vorgehen.

Der NDB mache keine flächendeckende Überwachung der Bevölkerung und keine Massenüberwachung, teilt dieser hingegen Blick mit. Auch habe er keine Generalvollmacht, sondern verfüge über Instrumente für gezielte Eingriffe bei besonderen Bedrohungslagen. Gefragt seien relevante Informationen und nicht Big Data im Sinne von grossen Datenhaufen. Bei der Kabelaufklärung dürften nur jene Informationen bearbeitet werden, die den vorher definierten und genehmigten Suchbegriffen entsprächen.

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