Polit-Geograf Michael Hermann
Setzt die SVP aufs falsche Feindbild?

Das neuste Chancenbarometer zeigt, dass Schweizerinnen und Schweizer vermehrt kritisch sind, was die Zuwanderung angeht. Gemäss Polit-Geograf Michael Hermann sind die Ergebnisse ein Fingerzeig an die EU. Was sie für die SVP bedeuten.
Publiziert: 09.09.2024 um 23:22 Uhr
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Er beobachtet verbreitete Wachstumsschmerzen – Politexperte Michael Hermann.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

  • Schweizer sehen Zuwanderung kritisch und sehen Handlungsbedarf
  • Die Bevölkerung bevorzugt geringe Zuwanderung über starkes Wirtschaftswachstum
  • Mehrheit befürwortet Zuwanderungsabgabe, um Belastungen auszugleichen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sophie ReinhardtRedaktorin Politik

Das aktuellste Chancenbarometer wollte von den Schweizerinnen und Schweizern wissen, wie sie auf die Migration blicken. Und das tun sie kritisch, wie die Auswertung der Umfrage zeigt. Blick hat Politgeograf und Projektpartner Michael Hermann (53) um Einschätzung der Ergebnisse gebeten.

Blick: Die Bevölkerung sieht bei der Eindämmung der Zuwanderung heute einen dringenderen Handlungsbedarf als noch vor ein paar Jahren. Wie erklären Sie sich das?
Michael Hermann:
Das Bevölkerungswachstum beschäftigt die Schweiz, eine so breite Skepsis habe ich noch nie erlebt. Die Kritik an der aktuellen Zuwanderungsdynamik gibt es fast in allen Milieus. Anders als in unseren Nachbarländern bewegt die Leute aber nicht so sehr die Angst vor fremden Kulturen oder Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Wir beobachten eher verbreitete Wachstumsschmerzen. Es geht um überfüllte Verkehrsinfrastruktur oder Sorgen über den Wohn- und Naturraum. 

Je weiter rechts eine Person sich einschätzt, desto wichtiger findet sie es, dass die Einwanderung eingeschränkt wird. Sind SVPler am meisten von den Negativerscheinungen der Zuwanderung betroffen?
Nein, sind sie nicht. Aber der wichtigste Grund, warum man SVP wählt, ist die Migrationsfrage. Das sind die Leute, die am meisten Mühe haben mit der sich öffnenden, international orientierten Schweiz. Bei der SVP hat sich über die Jahre auch fast nichts geändert in der Migrationsfrage. Im Gegensatz zu den Anhängerinnen und Sympathisanten der Mitte, GLP und FDP diese sind kritischer geworden.

Die Auswertung zeigt, dass die Bevölkerung eine geringe Zuwanderung einem starken Wirtschaftswachstum vorzieht. Wie erklären Sie sich das?
Man ist nicht mehr bereit, alles dem Wirtschaftswachstum unterzuordnen. Doch die Leute sind in der Frage hin- und hergerissen. Wir müssen uns vor allem bewusst sein, dass wir heute nur die Wachstumsschmerzen spüren. Die Schmerzen eines gebremsten Wachstums spüren wir dagegen erst, wenn es so weit wäre. 

Was auffällt: Schweizerinnen und Schweizer sorgen sich bei Bevölkerungswachstum um Mietkosten und viel Verkehr. Aber nicht um Überfremdung oder Kriminalität, mit der die SVP gerne auf das Thema aufmerksam macht. Setzt die SVP aufs falsche Feindbild?
Nein, weil sie setzt auf beides. Mit der Nachhaltigkeits-Initiative versucht sie genau, die weiteren Kritiker abzuholen. Gemäss Initiativtext darf die ständige Wohnbevölkerung zehn Millionen Menschen vor dem Jahr 2050 nicht überschreiten.

Die Umfrage fragte zwar nicht nach dieser SVP-Volksintiative. Doch wie schätzen Sie die Chancen ein aufgrund der aktuellen Umfrage des Chancenbarometers?
Die Initiative hat bei der heutigen Stimmung gute Chancen, angenommen zu werden.  

Bevölkerungswachstum und seine Folgen müssten auch ein Thema für die Grünen sein. Wird das tabuisiert, weil die SVP das Thema besetzt?
Gerade bei den Grünen wird die humanitäre Tradition sehr stark gepflegt. Darum ist das Thema für die Grünen immer sehr heikel. Gleichzeitig merke ich, dass gerade auch bei der SP das Bevölkerungswachstum zu reden gib. Selbst dort ist man nicht mehr so euphorisch, was Personenfreizügigkeit betrifft. 

Eine Mehrheit der Befragten sprach sich für eine Zuwanderungsabgabe aus. Glauben Sie, dass dieses Thema auf dem politischen Parkett ernsthaft diskutiert wird in nächster Zeit?
Ja, die Bevölkerung hat das Gefühl, sie zahlt den Preis für etwas, wovon andere profitieren. Und dass man deshalb einen Bonus haben möchte. Allerdings fragt sich, ob die Antwort der Befragten anders aussehen würde, wenn sie auch vor Augen hätten, dass damit die Personenfreizügigkeit und damit zum Beispiel die Gesundheitsversorgung gefährdet wird.

Die Studie kommt zum Schluss, das Einwanderungsland Schweiz brauche einen Umbau. Wo sehen Sie Potenzial für politische Mehrheiten bei konkreten Massnahmen?
Grundsätzlich will die Bevölkerung, dass die Politik etwas unternimmt. Allerdings sieht sie noch immer viel mehr Handlungsbedarf in den Bereichen Gesundheit, Altersvorsorge und Energie als bei der Zuwanderung. Die Ergebnisse des Chancenbarometers sind aber ein Fingerzeig an die EU. Wenn sie der Schweiz nicht entgegenkommt, wird es schwierig mit dem Abkommen. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass sich das Wohnungsproblem auch mit einer moderaten Einwanderungssteuerung nicht lösen wird. Da braucht es eine echte Wohnbauoffensive. 

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