Über eine Zahl stritt die Schweiz im letzten Winter wie keine andere: nicht über die Anzahl der Neuinfektionen im Land, sondern über jene der freien Intensivbetten. Für Streit sorgte nicht nur das ewige Zahlenchaos, sondern auch, dass im Vergleich zum ersten Pandemiewinter die Plätze auf Intensivstationen weniger geworden waren. Bei der hohen Anzahl besonders kranker Corona-Patienten erwies sich die Intensiv bald einmal als Nadelöhr des Gesundheitswesens.
Inzwischen sind die Corona-Massnahmen längst aufgehoben. Mehr Intensivplätze sind aber für allfällige weitere Wellen nicht vorhanden – im Gegenteil. «Wir blicken mit grosser Sorge auf den Herbst und Winter», sagt Yvonne Ribi (46), Geschäftsführerin des Berufsverbands der Pflegenden (SBK). Der Grund: Weil es nach wie vor an Personal mangelt, könnten erneut weniger Intensivbetten zur Verfügung stehen. «Wir haben Hinweise, dass sich die Personalsituation verglichen mit dem Vorjahr in allen Versorgungsbereichen noch verschlechtert hat», so Ribi. Man müsse daher davon ausgehen, dass sich die Anzahl Intensivplätze weiter reduzieren werde.
Hinter der Kritik steckt auch politisches Kalkül: Der SBK macht Druck, damit die im letzten Jahr vom Volk angenommene Pflege-Initiative rasch umgesetzt wird. «Es braucht nun dringend Massnahmen, damit das vorhandene Pflegepersonal im Beruf gehalten werden kann», so Ribi denn auch an die Adresse der Kantone.
Immer mehr nicht betriebene Betten
Damit die Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) ein Intensivbett auch anerkennt, müssen Anforderungen an Ausbildung des Personals, Minimalbestand, Organisation und bauliche Situation im Spital erfüllt sein. Aktuell weist die SGI mit 884 zertifizierten Betten sogar leicht mehr aus als noch letzten Winter. Nur: Das Zertifikat gibt keine Auskunft darüber, ob das jeweilige Spital auch genug Personal hat, um das Bett zu belegen.
Tatsächlich steigt in der Schweiz die Anzahl an zertifizierten Intensivbetten, die nicht betrieben werden können. Das bestätigt der koordinierte Sanitätsdienst des Bundes (KSD) gegenüber Blick. Aktuell sind es im Schnitt 85 nicht betriebene Intensivplätze, im April waren es gar deren 95. Letzten Sommer waren es mit durchschnittlich 42 noch halb so viele. Ob es nur am Personalmangel liegt, dass die Betten nicht betrieben werden können, oder ob andere Ursachen vorliegen, kontrolliert der KSD nicht.
«Die im nächsten Winter verfügbaren Kapazitäten sind gegenwärtig schwierig abzuschätzen», so ein KSD-Sprecher. Er hält fest, dass die Belastung weiterhin hoch ist. Sollte Corona im Herbst aber tatsächlich die Intensivbetten wieder füllen, sei es – in Kombination mit der weiterhin hohen Belastung – «plausibel und möglich, dass es erneut zu Personalausfällen kommt, die nicht kompensiert werden können.»
Versorgung ist gewährleistet
Die Kantone wiederum sind durch das Covid-Gesetz ohnehin verpflichtet, sich auf einen allfälligen Anstieg der Anzahl Corona-Patienten vorzubereiten. Die Konferenz der Gesundheitsdirektoren (GDK) empfiehlt ihren Mitgliedern auch, etwa Anreizsysteme zu prüfen, um mehr Intensivpersonal zu rekrutieren.
Einer erneuten Corona-Welle steht man aber gelassen gegenüber. «Es gab immer freie Kapazitäten», hält GDK-Sprecher Tobias Bär fest. Die Zahl der betriebenen Betten könne schwanken, es sei in der Vergangenheit aber immer möglich gewesen – auch mithilfe von ad-hoc-Betten – die Versorgung zu gewährleisten. «Wir gehen davon aus, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz den Behandlungsbedarf auch im kommenden Herbst und Winter mit der nötigen Flexibilität wird abdecken können.» Zudem hält Bär fest, dass im Ernstfall eine Handvoll Betten mehr oder weniger wenig bringen, wenn nicht auf Seite der Massnahmen eingegriffen wird.
Nächste Erkrankungswelle wird kommen
Wie wahrscheinlich es ist, dass Corona ein weiteres Mal Auswirkungen auf die Intensivstationen hat, steht in den Sternen. Experten rechnen spätestens im Herbst mit einer erneuten Erkrankungswelle. Gut möglich ist auch, dass es gar eine Sommerwelle wird.
Verantwortlich dafür ist der neueste Subtyp der Omikron-Variante. Die gute Nachricht ist, dass auch diese Variante nach dem aktuellen Kenntnisstand wohl nicht gefährlicher ist als die bisherigen.