Die Corona-Herbstwelle ebbt ab. 30'305 neue Fälle vermeldet das Bundesamt für Gesundheit innert einer Woche. Rund 7000 weniger als vor Wochenfrist. Aber noch immer fast doppelt so viele wie vor einem Monat. Offiziell werden derzeit täglich über 4000 neue Fälle registriert. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Einzelne Kantone haben die Corona-Massnahmen jüngst verschärft, etwa mit einer Rückkehr zur Maskenpflicht in Spitälern oder Altersheimen. Die kantonalen Gesundheitsdirektoren hingegen warten mit neuen Massnahme-Empfehlungen zu. Diesen Kurs stützt im Blick-Interview auch der oberste Kantonsarzt Rudolf Hauri (62). Eine punktuelle Rückkehr zur Maskenpflicht schliesst er aber nicht aus.
Blick: Herr Hauri, nach einem mehrwöchigen Anstieg sind die Corona-Zahlen wieder gesunken. Ist das die Trendwende?
Rudolf Hauri: Für eine Entwarnung ist es zu früh. Als Abfallen würde ich die Entwicklung noch nicht bezeichnen, sondern als Stagnation. Es kann sich nämlich auch um eine Art Zwischenplateau handeln. Das wissen wir erst in etwa zwei Wochen. Die nach wie vor hohe Positivitätsrate deutet zudem auf eine hohe Dunkelziffer hin. Real dürften sich fünf- bis sechsmal mehr Leute mit dem Coronavirus anstecken als offiziell bestätigt – also täglich über 20'000 Personen.
In vielen Kantonen waren Herbstferien, hat das einen Effekt?
Das ist durchaus möglich. Vielleicht haben sich in den Herbstferien weniger Menschen testen lassen. Die Fallzahlen dürften in den nächsten Wochen jedenfalls alleine schon aus saisonalen Gründen wieder steigen. Der Peak der Herbstwelle ist sicher noch nicht erreicht.
Macht Ihnen Corona also Sorgen?
Derzeit nicht. Sorgen macht mir eher, dass neben steigenden Corona-Fällen dieses Jahr mit einer stärkeren Grippewelle zu rechnen ist. Hinzu kommen weitere Erkältungsviren. Unter anderem wohl auch, weil seltener Masken getragen werden. Kumuliert dürfte dies wieder zu einer deutlich stärkeren Belastung der Spitäler, aber auch der Arztpraxen führen. Das zeigen auch die Erfahrungen in Australien, wo derzeit die Wintersaison zu Ende geht.
Kommen die Spitäler also wieder an den Anschlag?
Die Belastung ist jetzt schon hoch – nicht wegen Corona, sondern weil es an genügend Personal fehlt. Wenn die Fallzahlen aber steigen, dürften auch die Hospitalisierungen wieder zunehmen. Allerdings dürften die Intensivstationen wegen Corona nicht mehr derart an den Anschlag kommen, wie in den letzten beiden Jahren. Es gibt derzeit keine Indizien, dass es zu einer massiven Überlastung kommt. Das hat auch mit der hohen Immunität von rund 97 Prozent der Bevölkerung zu tun. Schwere Erkrankungen sind dadurch seltener geworden. Wir haben eine ganz andere Ausgangslage als noch 2020 oder 2021.
Derzeit macht mit BQ.1.1 eine neue Variante Schlagzeilen. Welchen Einfluss wird diese haben?
Diese neue Variante ist ansteckender als die bisherigen Omikron-Varianten und dürfte in den kommenden Wochen auch in der Schweiz Überhand nehmen. Sie wird die jetzige Corona-Welle wieder beflügeln. Allerdings gibt es bisher keine Belege, dass sie auch zu mehr schweren Verläufen führt. Es wird sicher noch weitere neue Varianten geben. Allerdings glaube ich nicht, dass es nochmals einen Game Changer geben wird, der alles über den Haufen wirft.
Die kantonalen Gesundheitsdirektoren verzichten vorerst auf neue Schutzmassnahmen. Finden Sie das als oberster Kantonsarzt richtig?
Der jetzige Verzicht bedeutet nicht, dass man die Entwicklung nicht weiterhin genau beobachtet. Ebenso wenig, dass es nicht später doch noch Empfehlungen für neue Massnahmen geben wird. Und schon gar nicht, dass man bereits Entwarnung gibt. Die Pandemie ist sicher noch nicht vorbei. Aber das Zuwarten ist nachvollziehbar und auch vertretbar.
Auch aus medizinischer Sicht?
Ja, denn die Bevölkerung weiss mittlerweile, wie sie sich schützen kann. Jeder kann freiwillig eine Maske tragen. Mir fällt auf, dass im öffentlichen Verkehr wieder vermehrt Maske getragen oder bei Begrüssungen wieder öfter Abstand gehalten wird. Das zeigt: Die Bevölkerung hat in fast schon drei Jahren Pandemie gelernt, mit dem Virus umzugehen. Auch Institutionen wie Gesundheitseinrichtungen oder Altersheime können selber einschätzen, ob es bei ihnen eine Maskenpflicht braucht oder nicht. Die Kantonsärzte-Vereinigung hat deshalb auch keine neuen Massnahmen gefordert.
Dann rechnen Sie nicht mehr mit einer Rückkehr der Maskenpflicht?
Die Maske ist das einfachste, schnellste, billigste und effektivste Mittel im Kampf gegen die Pandemie. Wenn es neue Massnahmen braucht, wird die Maskenpflicht bestimmt zuoberst auf der Liste stehen. Sollte sich die Situation ungünstig entwickeln, kann ich mir gut vorstellen, dass es in gewissen Innenräumen oder an grösseren Veranstaltungen wieder eine Maskenpflicht gibt. Vielleicht sogar im kantonalen ÖV – wobei in diesem Bereich eine nationale Regelung mehr Sinn machen würde. Allerdings rechne ich nicht mit einer Rückkehr zur Maskenpflicht an breiter Front. Eher im engeren Bereich, wie etwa in Gesundheitseinrichtungen.
Setzen Sie die Maske selbst wieder öfter auf?
Ja, etwa zu Stosszeiten im öffentlichen Verkehr. Aber auch an Veranstaltungen mit vielen Leuten, wenn sich die Risikosituation nicht genau einschätzen lässt. Ich habe jedenfalls immer eine Maske dabei – für alle Fälle. Das empfehle ich jedem. Wer auf Nummer sicher gehen will, soll jetzt schon Maske tragen. Und natürlich empfehlen wir insbesondere Personen über 65 und anderen Risikogruppen die Auffrischimpfung.
Seit 10. Oktober gibts den zweiten Booster für alle ab 16 gratis. Trotzdem scheinen viele noch zu zögern. Wie erklären Sie sich die Zurückhaltung?
Die Möglichkeit zur zweiten Auffrischimpfung wird wahrgenommen, allerdings erfolgt kein Ansturm. Im Kanton Zug zum Beispiel werden aber doch jeden Tag einige Hundert Impfungen verabreicht. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Personen mit der zweiten Auffrischimpfung zögern: Sie sind dreimal vollständig geimpft und fühlen sich gut geschützt, sie hatten sich kürzlich angesteckt, oder sie wollen auf den neusten Impfstoff warten.
Man hat den Eindruck, Corona macht den Menschen nicht mehr gross Sorgen.
Ja, Corona hat seinen Schrecken verloren. Weil wir uns an die Pandemie gewöhnt haben. Weil die dominierenden Varianten gefühlt weniger schwere Erkrankungen zur Folge haben. Und weil wir wissen, wie wir damit umgehen und uns schützen können. Doch auch wenn der Horror vorbei ist, müssen wir den Respekt vor dem Virus behalten. Gerade mit Blick auf die Spitäler, die keine neue Welle mit Corona-Patienten wollen respektive einfach so verkraften könnten. Und gerade auch mit Blick auf die ambulanten Strukturen wie Arztpraxen, die ebenfalls heute schon stark beansprucht sind.
Zum Schluss: Wann ist die Pandemie endlich vorbei?
Das lässt sich nicht genau sagen. Das Coronavirus wird uns medizinisch noch lange beschäftigen. Ich erwarte aber, dass es im Alltag seine Bedeutung im Verlauf des Jahres 2023 massiv verlieren wird. Eine andere Frage ist, wann die Pandemie offiziell durch die WHO für beendet erklärt wird.