Auf einen Blick
Herr Gerber, in der Schweiz arbeiten so wenige Personen mit Status S wie fast nirgends in Europa. Was läuft bei uns falsch?
Adrian Gerber: In jedem Land herrschen andere Bedingungen. Man kann Äpfel nicht mit Birnen vergleichen.
Warum liegt aber die Erwerbsquote in der Schweiz nur bei 28,5 Prozent?
Die Einstiegshürden sind hoch, da unser Arbeitsmarkt hochspezialisiert ist. Dazu kommt, dass Englisch im Schweizer Arbeitsmarkt kaum anerkannt ist. Eine weitere Hürde ist die Kinderbetreuung.
In anderen Ländern – mit ebenfalls hochspezialisiertem Arbeitsmarkt – arbeiten doppelt so viel.
In anderen Ländern arbeiten viele Geflüchtete auch mit tieferen Pensen und in Branchen wie der Landwirtschaft oder der Reinigung. Dort sind die Einstiegshürden tiefer.
Der Bundesrat will, dass bis Ende Jahr 40 Prozent der Ukrainerinnen arbeiten. Schon jetzt ist klar: Das Ziel wird deutlich verfehlt.
Vor einem Jahr debattierte die Schweiz noch darüber, ob man schutzsuchende Ukrainer überhaupt fördern soll. Mit dem 40-Prozent-Ziel hat der Bundesrat signalisiert: Wir wollen die Ukrainerinnen und Ukrainer integrieren.
Die 40-Prozent-Ansage war somit reine Symbolpolitik.
Nein, es ist ein strategisches Ziel, das die ganze Schweiz herausfordert. In erster Linie müssen die Kantone, Gemeinden, Firmen und Ukrainer mitmachen. Der Bund kann unterstützen.
Der Bundesrat will die Ukrainer also integrieren. Nur: Der Status S ist rückkehrorientiert.
Integration und Rückkehr sind kein Widerspruch. Indem die Ukrainerinnen und Ukrainer eine neue Sprache lernen, hier arbeiten und ihr Wissen erweitern, stärken sie ihre Fähigkeiten. Das hilft unserer Wirtschaft, senkt Sozialhilfekosten und gibt den Geflüchteten eine Zukunft, wo auch immer diese sein wird.
Ob die Ukrainer je zurückkehren, hängt vom Kriegsverlauf ab.
Ja, aber eben auch von der Frage, ob wir ihnen eine Perspektive geben. Einfach nichts zu tun und Ukrainer hängen zu lassen, wäre das Schlimmste. Man muss sie unterstützen, auch damit sie dereinst zum Wiederaufbau ihrer Heimat beitragen können.
Das Hauptproblem bei der Arbeitsmarktintegration bleibt jedoch die Unsicherheit über eine Rückkehr. Die Arbeitgeber stellen vor allem deshalb keine Ukrainer ein – so besagt es eine Studie der Universität Neuenburg.
Der Bundesrat hat den Schutzstatus S bis März 2026 verlängert. Er hat auch entschieden, dass erwerbstätige Ukrainerinnen und Ukrainer nach einer Aufhebung des Status S weitere zwölf Monate in der Schweiz arbeiten dürfen. Stand heute gibt es also eine Perspektive bis im Frühling 2027. Der Bundesrat hat dadurch mittelfristig Planungssicherheit geschaffen. Jetzt stehen die Firmen in der Verantwortung.
Was raten Sie einer Ukrainerin, die trotz vieler Bewerbungen nur Absagen erhält?
Dranbleiben! Integration ist ein langwieriger Prozess, den man Schritt für Schritt gehen muss. Um einen Fuss in den Arbeitsmarkt zu bekommen, muss man einfach irgendwo beginnen. Auch temporär oder Teilzeit. Meist liegt der erste Job noch unter der eigenen Qualifikation. Da gilt es, Abstriche zu machen. Man muss aber dranbleiben, um weiterzukommen.
Die Ukrainer sollen also bei McDonald's anheuern?
Ja, warum nicht? Wichtig ist es, erste Erfahrungen zu sammeln, sein Potenzial zu zeigen und sich hochzuarbeiten. Kürzlich sprach ich mit einem gut qualifizierten Ukrainer, der zuerst einen Job in der Landwirtschaft angenommen hat und heute wieder in seiner Branche arbeitet, in der Finanzindustrie. Schritt für Schritt – so funktioniert Integration.