Yvonne Gilli, Praesidentin der FMH - der Berufsverband der Schweizer Aerztinnen und Aerzte -, fotografiert waehrend eines Gespraechs am 8. April 2021 am Hauptsitz der FMH in Bern. (KEYSTONE/Christian Beutler)
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Oberste Ärztin über Ungeimpfte:«Man sollte nicht den Druck erhöhen»

Oberste Ärztin Yvonne Gilli verteidigt Ungeimpfte
«Die Impfgegner sind eine kleine Gruppe»

FMH-Präsidentin Yvonne Gilli findet es falsch, zu thematisieren, dass vor allem Ungeimpfte auf den Intensivstationen landen. Damit spalte man die Gesellschaft.
Publiziert: 27.11.2021 um 15:15 Uhr
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Aktualisiert: 28.11.2021 um 07:46 Uhr
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FMH-Präsidentin Yvonne Gilli ist überzeugt: «Unter den Ungeimpften sind die Impfgegner eine kleine Gruppe.»
Foto: Nathalie Taiana
Interview: Alabor Camilla

Anfang Jahr sorgte Yvonne Gilli, Präsidentin der Schweizer Ärztevereinigung FMH, für Aufsehen. In einem Interview wollte sie nicht sagen, ob sie sich gegen Covid-19 impfen lässt.

Für Kritik sorgte bei ihrer Wahl im vergangenen Jahr zudem die Tatsache, dass sie neben der Schulmedizin auch auf Homöopathie und traditionelle chinesische Medizin setzt.

Im Interview nimmt Gilli jetzt Stellung zur Impffrage – und zum Umgang unserer Gesellschaft mit Ungeimpften.

Frau Gilli, vor einem Jahr wollten Sie nicht sagen, ob Sie sich gegen Covid-19 impfen lassen. Erlauben Sie mir die Frage dennoch: Sind Sie jetzt geimpft?
Yvonne Gilli: Ja, ich bin zwei Mal geimpft.

Aber?
Ich bin nicht begeistert ob Ihrer Frage. Ich war lange im Stiftungsrat der Schweizer Patientenorganisation und habe mich dort für die Rechte der Patienten eingesetzt. Dazu gehört auch der Persönlichkeitsschutz in Bezug auf die Krankheitsgeschichte. Mit der Frage nach dem Impfstatus untergräbt man diesen.

Sie sind ja nicht irgendwer, sondern als FMH-Präsidentin die oberste Ärztin der Schweiz.
In einer solchen Position ist es umso wichtiger, für die Rechte der Patienten einzustehen. Berechtigt ist hingegen die Frage, was die Ärzteschaft zur Impfung sagt. Unsere Botschaft ist klar: Wir empfehlen die Impfung als derzeit wichtigstes Mittel, um aus dieser Pandemie herauszukommen.

Sie sagen, die Impfung ist Privatsache. Tatsache ist nun mal: Die Ungeimpften tragen dazu bei, dass sich die Pandemie verlängert.
Die Impfung verhindert schwere Verläufe und damit eine Überlastung des Gesundheitswesens. Das ist das Ziel. Aber auch Ungeimpfte können mit verantwortungsvollem Verhalten helfen, die Pandemie zu bewältigen. Die Frage ist ja auch, wer die Ungeimpften sind. Der Anteil von Impfgegnern, die wir von einer Impfung nicht überzeugen können, ist verschwindend klein. Von daher ist es falsch, auf sie den Fokus zu legen.

Ein Viertel all jener, die sich impfen lassen können, sind ungeimpft. Da kann man doch nicht von einer kleinen Minderheit sprechen.
Unter den Ungeimpften sind die Impfgegner eine kleine Gruppe. Die grosse Mehrheit hat Ängste oder Fragen in Bezug auf die Impfung; diese Menschen kann man mit einer individuellen Beratung abholen. Ein weiterer Teil sind jene, welche die Krankheit durchgemacht haben. Von ihnen kann man nicht sagen, dass sie die Pandemie verlängern. Und dann gibt es Leute, die sich aus verschiedenen Gründen nicht impfen lassen wollen. Sei es, weil sie gegenüber den derzeit verfügbaren Impfstoffen kritisch sind. Oder weil es sich um eine hochbetagte Person handelt, die sagt, sie nehme in Kauf, an der Krankheit zu sterben.

Es ist also in Ordnung, mitten in einer Pandemie willentlich eine Hospitalisierung in Kauf zu nehmen?
Epidemiologisch gesehen hätten wir keine Überlastung der Spitäler, wenn sich alle Risikopersonen und eine grosse Mehrheit der Erwachsenen impfen lassen. Aber wenn man sagt, Ungeimpfte besetzen die Intensivplätze und andere Behandlungen müssen deshalb aufgeschoben werden, polemisiert man damit. Niemand nimmt willentlich in Kauf, im Spital zu landen.

Sie sprechen von Polemik. Die Ärzte in den Spitälern sehen darin eine Tatsache.
Es kommt darauf an, in welchem Fenster der Pandemie wir uns befinden. Wenn viele Menschen ungeimpft sind, liegen auf den Intensivstationen viele Ungeimpfte. Als in Israel die meisten Menschen geimpft waren, aber noch kein Booster vorhanden war, waren plötzlich viele Geimpfte auf der Intensivstation.

Nach Ihren Erfahrungen als Hausärztin: Welche Gründe haben Menschen, sich nicht impfen zu lassen?
Jeder Mensch hat eine andere Lebensgeschichte. Es kann sein, dass diese geprägt ist durch Ängste. Oder, dass man auf ein Medikament einst mit einer schweren Nebenwirkung reagierte und darum Angst vor neuen Medikamenten hat. Wieder andere leben vielleicht abgeschottet und denken darum, dass sie nicht gefährdet sind zu erkranken. Es gibt viele Gründe, warum Menschen eine Impfung ablehnen. Im Gespräch in der hausärztlichen Praxis kann man diese Personen abholen. Die Erfahrung zeigt, dass sich nach einer individuellen Beratung fast alle für die Impfung entscheiden.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Eine Person aus dem Westbalkan machte sich Sorgen, dass die Impfung unfruchtbar macht. Das ist eine Verschwörungstheorie ohne jegliche wissenschaftliche Basis. Diese Person konnte ich abholen, indem ich ihr sagte: Alle meine drei Söhne sind im Alter, in dem sie vielleicht noch Kinder haben wollen, und alle drei sind geimpft. Wenn ich auch nur den geringsten Zweifel an der Impfung hätte, hätte ich sie meinen Söhnen sicher nicht empfohlen.

Wie hat die betreffende Person reagiert?
Eine Woche später war ihre ganze Familie geimpft.

Sie haben vor einem Jahr kritisiert, dass das BAG die Ärzte in der Pandemiebekämpfung nicht genügend miteinbeziehe. Hat sich die Situation seither verbessert?
Leider nicht. Das letzte Beispiel ist der Booster. Wir Ärzte haben aus der Zeitung erfahren, dass er kommt. Sogleich haben uns Patienten mit Anfragen bombardiert – dabei gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eine offizielle Empfehlung, für wen der Booster zur Verfügung steht oder ab wann er ausgeliefert wird.

Das muss frustrierend sein.
Das ist weniger frustrierend als besorgniserregend. Wir holen in der Pandemiebekämpfung nicht das Maximum heraus. Und das, obwohl die Fallzahlen steigen und Massnahmen dringend nötig wären. Die Politik droht diese Situation noch zu verschärfen, indem sie dem Gesundheitswesen ein Globalbudget auferlegen will.

Sie sprechen die Vorlage zur Kostendämpfung an, die das Parlament in der Wintersession berät.
Das tragische Beispiel für ein Land, das mit einem Globalbudget operiert, ist England. Dort hat der Kostendruck dazu geführt, dass Spitäler viel zu wenige Intensivpflegefachleute haben und während des Höhepunkts der Pandemie die Hälfte der Patienten auf der Intensivstation verstarben – weil es an Personal fehlte. Mit einem Globalbudget würde die Schweiz eine ähnliche Richtung einschlagen: Statt den administrativen Aufwand zu senken, würde bei der Patientenversorgung gespart. Nun hat es der Ständerat in der Hand, diese gefährliche Massnahme abzuwenden.

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