Auf dem politischen Parkett ist Yvonne Gilli ein alter Hase, sass sie doch schon einmal für die Grünen im Nationalrat. Ab Februar übernimmt sie nun das Präsidium der FMH, des Berufsverbands der Ärztinnen und Ärzte. Gilli wird die erste Frau an der Spitze der über 100-jährigen Organisation.
Frau Gilli, Sie sassen schon im Nationalrat, haben einen zweiten Anlauf verpasst und sind jetzt via FMH wieder in einem sehr politischen Amt. Können Sie es einfach nicht lassen?
Yvonne Gilli: Ich habe fast mein Leben lang in der einen oder anderen Funktion die Politik begleitet. Ich bin eine politische Person. Und das werde ich auch bleiben.
Sie treten Ihr Amt als FMH-Präsidentin im Februar an, noch sind Sie Hausärztin. Wie erleben Sie die Corona-Lage?
Sicher strenger als üblich. Glücklicherweise habe ich bis jetzt keine schweren Corona-Erkrankungen begleiten müssen, aber das Beratungsbedürfnis von den Patienten wie auch den Angehörigen ist viel höher als bei anderen Krankheiten. Ich stelle auch fest, dass die Hausärzte im Vergleich zum Contact Tracing ein Vertrauensvorsprung haben. Sie kennen die Patienten bereits und können Corona aus der Praxis beurteilen.
Sorgen macht zurzeit die mutierte Virusvariante aus Grossbritannien, die als deutlich ansteckender gilt. Kann die Schweiz das meistern?
Diese Mutation wird die Situation massiv verschlechtern. Und die aktuell geltenden Massnahmen reichen aus meiner Sicht eindeutig nicht. Das Gesundheitswesen ist am Anschlag, und wir können es uns schlicht nicht leisten, dass die Fallzahlen erneut ansteigen. Ich glaube nicht, dass wir um einen strengen Lockdown herumkommen werden.
Der Bundesrat hat bereits schärfere Massnahmen in Aussicht gestellt. Werden diese reichen?
Ich hoffe es! Wir tun gut daran, jetzt entschlossen vorzugehen. Ich hoffe auch, dass der Bundesrat aus der ersten Welle gelernt hat und sich für differenzierte Massnahmen entscheidet. Etwa, dass man in den Altersheimen lieber auf verstärkte Schutzmassnahmen setzt als auf ein absolutes Besuchsverbot. Es geht darum, eine Balance zu finden, die auch Menschlichkeit zulässt.
Gleichzeitig ist nun schweizweit die Impfkampagne angelaufen. Was sind Ihre Erwartungen an die Impfung?
Vorerst wird die Impfung keine Erleichterung geben. Das kann sie gar nicht. Es braucht Zeit, schon allein deshalb, weil jeweils zwei Dosen nötig sind. Pandemien verlaufen in Wellen, die sich mit der Zeit auch abschwächen. Die Impfung wird ein Puzzleteil sein, das zur Bewältigung beiträgt – mehr nicht.
Sie selbst haben kürzlich wegen impfkritischen Aussagen in der Vergangenheit Schlagzeilen gemacht. Stimmt es, dass Sie eine Gegnerin der Masernimpfung sind und Ihre Söhne nicht impfen liessen?
Diese Diskussion war absurd. Da hat ein Herr ein sieben Jahre altes Interview ausgegraben und vertwittert, und zwei weitere Herren haben das dann als Anlass genommen, zu kommentieren. Ich habe jahrzehntelang Menschen in meiner Hausarztpraxis zum Thema Impfungen beraten und auch die Masernimpfung gemäss Impfplan empfohlen.
Haben Sie Ihre Söhne denn geimpft oder nicht?
Da wurden Sachen vermischt. Ein Sohn hatte schon mit zwölf Monaten die Masern, was eine Impfung unnötig macht, den zweiten habe ich erst später geimpft. Die soziale Verantwortung gegenüber gefährdeten Menschen und gegenüber Regionen, von denen wir auch von der WHO wissen, dass Masern schwerste Erkrankungen verursacht, nehme ich sehr ernst.
Und wie stehen Sie der Corona-Impfung gegenüber?
Sowohl ich als auch die FMH stehen ganz klar hinter der Impfung und empfehlen sie auch.
Werden Sie sich denn impfen lassen?
Es widerspricht dem Ethos von Ärztinnen und Ärzten, wenn von Menschen erwartet wird, dass sie Aussagen über medizinische Behandlungen und Diagnosen als politische Statements quasi als Gesinnungsbekenntnis machen sollen. Deswegen ist auch die ärztliche Schweigepflicht so streng gesetzlich verankert. Das gilt für jeden, ob Bundesrat oder ganz normale Bürgerin. Deswegen möchte ich diese Frage aus Prinzip nicht beantworten. Was, wenn ich gesundheitliche Gründe hätte, die gegen eine Impfung sprechen? Heute geht es ums Impfen, das nächste Mal vielleicht um eine Krebsbehandlung oder eine diagnostische Untersuchung. Ein öffentlicher Druck, sich zu solchen Fragen persönlich zu äussern, ist aus meiner Sicht absolut unangebracht.
Dann zurück zur Corona-Krise. Warum hat die Schweiz derart versagt?
Zur Entlastung der Schweiz: Es kämpfen ja alle mit Schwierigkeiten, und wir sind ein sehr dicht besiedeltes Land. Gleichzeitig haben wir den Sommer viel zu wenig genutzt, um uns vorzubereiten. Es war schliesslich absehbar, dass eine zweite Welle kommen wird. Und mittendrin kann man keine Strukturen mehr aufbauen, dann muss man sich darauf konzentrieren, Infektionen zu vermeiden und Erkrankte zu behandeln.
War es denn so sonnenklar, dass die zweite Welle kommt? Im Sommer waren die Fallzahlen ja tief.
Jede medizinische Fachperson hat das gewusst. Das sind schlicht naturwissenschaftliche Prinzipien, ein erneuter Anstieg war absolut absehbar.
Im Februar tritt Yvonne Gilli (63) ihr Amt als erste Präsidentin der FMH an, die 42'000 Ärztinnen und Ärzte zu ihren Mitgliedern zählt. Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin. In ihrem Wohnort Wil SG arbeitet sie als Hausärztin. Zwischen 2007 und 2015 war sie Nationalrätin der Grünen.
Im Februar tritt Yvonne Gilli (63) ihr Amt als erste Präsidentin der FMH an, die 42'000 Ärztinnen und Ärzte zu ihren Mitgliedern zählt. Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin. In ihrem Wohnort Wil SG arbeitet sie als Hausärztin. Zwischen 2007 und 2015 war sie Nationalrätin der Grünen.
Sie haben die Corona-Krise einmal als «entlarvend» bezeichnet – weil etwa Digitalisierungsmängel beim BAG zutage getreten sind. Hat sich das inzwischen gebessert?
Ja und Nein. Anfangs gab es ja nicht einmal die Möglichkeit, Fälle digital zu melden. Das hat sich etwas gebessert.
Die Schnelltest-Resultate müssen zurzeit via BAG-Webseite gemeldet werden. Funktioniert das?
Im Moment gibt es kein funktionales Meldeverfahren, das es den Ärzten und Ärztinnen erlauben würde, im Rahmen des Praxisablaufs zu melden. Der Prozess ist kompliziert und umständlich. Das muss sich noch bessern.
Ab Anfang Februar sind Sie FMH-Präsidentin. Was haben Sie mit der FMH vor?
Vorab die Ärzteschaft als Gruppe zusammenhalten. Von politischen Entscheiden sind die Mitglieder sehr unterschiedlich betroffen, die Arbeitsfelder liegen weit auseinander. Die Kunst wird sein, sich auf Anliegen zu konzentrieren, die alle betreffen – die Rahmenbedingungen. Da bläst uns ein rauer Wind entgegen.
Politische Entscheide im Gesundheitswesen kommen – nämlich mit dem Kostendämpfungspaket. Ist Alain Berset mit seinen Sparplänen auf dem richtigen Weg?
Ich sehe vor allem Probleme beim vorgeschlagenen Globalbudget, also einem fixen Kostendach im Gesundheitswesen. Das wäre ein grosser Einschnitt in die Behandlungsqualität, Zielvorgaben bei den Kosten können etwa zu verlängerten Wartezeiten bei den Patienten führen. Wir haben ein sehr gutes Gesundheitssystem, das sollten wir nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen.