Die Pillen helfen gegen Depressionen, Schlafstörungen oder bei schweren psychischen Erkrankungen. Eine Pille zum Einschlafen, eine für mehr Selbstvertrauen, eine gegen Stimmungsschwankungen. Doch die Mittel überdecken nur die Symptome eines tiefer liegenden Problems – und sie machen im schlimmsten Fall süchtig. Trotzdem werden sie immer öfter verschrieben, wie eine Untersuchung von Helsana zeigt: So hat die Menge der verschriebenen Psychopharmaka in den letzten Jahren stark zugenommen. Allein zwischen 2014 und 2017 um plus 7,5 Prozent.
«Inzwischen beziehen über 20 Prozent unserer Versicherten mindestens ein Psychopharmakon pro Jahr», heisst es bei Helsana dazu. Obwohl sie nur von einem einzigen Versicherer stammen, sind die Zahlen durchaus repräsentativ: 1,9 Millionen Schweizer sind bei der grössten Schweizer Krankenkasse versichert.
Hälfte der Pillen wird durch Hausärzte verschrieben
Über die Hälfte der Pillen, welche die Psyche beeinflussen, wird durch die Hausärzte verschrieben. Der Anteil bei den Psychiatern beläuft sich lediglich auf rund 18 Prozent. Es sind vor allem alle übrigen Ärzte, die massiv mehr Psychopharmaka verschreiben. Plus 40 Prozent mehr sind es in der Kategorie «Übrige», wie der aktuelle Helsana-Report über Mengenentwicklungen in der Grundversicherung zeigt.
Zu Psychopharmaka gehören hochpotente Medikamente wie Neuroleptika, die etwa bei einer Schizophrenie eingesetzt werden, aber auch Schlafmittel von der Kategorie der Benzodiazepine. Am meisten verschrieben werden jedoch die weniger potenten Antidepressiva.
Was alle Mittel gemeinsam haben: Sie müssen von einem Arzt verschrieben werden – harmlose Einschlafmittel, die ohne Rezept erhältlich sind, werden in dieser Statistik nicht mitgezählt.
Vor allem Westschweizer und Frauen
Weshalb immer mehr dieser Medikamente verschrieben werden, kann sich der Versicherer nicht erklären. «Das müsste nun mit einer vertieften Analyse untersucht werden», heisst es bei Helsana dazu. «Wir stellen jedoch fest, dass vor allem Westschweizer und Frauen Psychopharmaka beziehen», so Mathias Früh von Helsana.
Einen Erklärungsansatz für die Zunahme der Verschreibungen hat man bei der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH): «Psychische Erkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt und nehmen zu», sagt Yvonne Gilli (62) vom FMH-Zentralvorstand. Dabei seien Ärzte aller Fachrichtungen an deren Behandlung beteiligt und berechtigt, Verschreibungen vorzunehmen. Auch die Schweizer Psychiater stellen die Zunahme fest – kritisieren gleichzeitig die Verschreibung von Psychopharmaka ohne therapeutische Begleitung, wie der Präsident der Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Pierre Vallon (67), sagt: «Die Entwicklung, wonach immer mehr Psychopharmaka von Hausärzten oder anderen nicht spezialisierten Ärzten verschrieben werden, sehen wir kritisch.»
Hohes Abhängigkeitspotenzial bei Benzodiazepinen
Psychiater würden sich mehr Zeit für den Patienten nehmen und setzten bei der Therapie nur falls nötig Medikamente ein – «dies aber sehr präzise und zeitlich begrenzt», erklärt Vallon. Wenn man ein Psychopharmakon von einem nicht spezialisierten Arzt verschrieben bekomme, bestehe die Gefahr, dass der Patient zu wenig eng begleitet werde. «Denn», so Vallon, «bei Psychopharmaka wie etwa Benzodiazepinen besteht ein hohes Abhängigkeitspotenzial.» Bei der FMH nimmt man die Kritik der Psychiater an. Es sei tatsächlich nicht sinnvoll, wenn depressive Erkrankungen «einseitig und ohne psychotherapeutische Behandlung medikamentös behandelt werden», so Gilli.
Psychiater wie der emeritierte Zürcher Professor für Psychiatrie, Daniel Hell (75), plädieren deshalb dafür, Erkrankungen wie eine Depression nicht nur mit Medikamenten zu behandeln (Interview rechts). Dass dringend Handlungsbedarf besteht, zeigen jüngste Zahlen der IV: Knapp die Hälfte der Neurenten wird wegen einer psychischen Erkrankung gesprochen. Pierre Vallon weiss: «Darunter sind bereits 20-Jährige, deren Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt ist besonders schwierig.»
Daniel Hell (75) arbeitete viele Jahre als ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) und Professor für klinische Psychiatrie. Nach seiner Pensionierung ist er weiterhin als Psychiater und Psychotherapeut tätig. Hell verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der das soziale Umfeld für die Entstehung von Krankheiten mitverantwortlich macht.
Herr Hell, jüngste Zahlen zeigen: Psychopharmaka werden vermehrt von Nicht-Psychiatern verschrieben. Was halten Sie davon?
Daniel Hell: Die Verschreibung etwa von Antidepressiva durch Hausärzte halte ich in manchen Fällen für sinnvoll, zum Beispiel bei leichteren Depressionen mit Schlafstörungen. Sehr problematisch finde ich aber ein vorschnelles Verschreiben ohne vertiefte Gespräche, ohne Prüfung von Behandlungsalternativen oder Selbsthilfemassnahmen. Dazu gehören Entspannungsübungen, Massage oder Sport.
Warum ist das Verschreiben durch andere Ärzte so heikel?
Es gilt, Wirkung und Nebenwirkungen von Psychopharmaka gegeneinander abzuwägen. So sollte die längere Behandlung mit Antidepressiva von einem Psychiater angeordnet werden. Denn was kurzfristig den Leidensdruck vermindert, kann bei langfristiger Einnahme die Lebensqualität verschlechtern und zu weiteren Komplikationen führen.
Dennoch werden zunehmend Antidepressiva verschrieben.
Meine Einschätzung ist, dass Antidepressiva heute viel zu häufig verordnet werden und zu einer unnötigen Komplikationsrate führen. In der Bevölkerung, aber teilweise auch bei Ärzten ist immer noch die früher propagierte Meinung verbreitet, dass Antidepressiva die Ursachen von Depressionen beseitigen können. Sie wirken aber nur auf Symptome.
Was wäre die Alternative zum Einsatz von Medikamenten?
Nachhaltiger wirkt oft eine Psychotherapie. Tatsächlich zeigen die Zahlen der Helsana, dass auch die Zuweisungen an Psychologen für eine Psychotherapie zugenommen haben. Das unterstreicht, dass die Psychotherapie in der medizinischen Versorgung zunehmend einen grösseren Stellenwert bekommt.
Daniel Hell (75) arbeitete viele Jahre als ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) und Professor für klinische Psychiatrie. Nach seiner Pensionierung ist er weiterhin als Psychiater und Psychotherapeut tätig. Hell verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der das soziale Umfeld für die Entstehung von Krankheiten mitverantwortlich macht.
Herr Hell, jüngste Zahlen zeigen: Psychopharmaka werden vermehrt von Nicht-Psychiatern verschrieben. Was halten Sie davon?
Daniel Hell: Die Verschreibung etwa von Antidepressiva durch Hausärzte halte ich in manchen Fällen für sinnvoll, zum Beispiel bei leichteren Depressionen mit Schlafstörungen. Sehr problematisch finde ich aber ein vorschnelles Verschreiben ohne vertiefte Gespräche, ohne Prüfung von Behandlungsalternativen oder Selbsthilfemassnahmen. Dazu gehören Entspannungsübungen, Massage oder Sport.
Warum ist das Verschreiben durch andere Ärzte so heikel?
Es gilt, Wirkung und Nebenwirkungen von Psychopharmaka gegeneinander abzuwägen. So sollte die längere Behandlung mit Antidepressiva von einem Psychiater angeordnet werden. Denn was kurzfristig den Leidensdruck vermindert, kann bei langfristiger Einnahme die Lebensqualität verschlechtern und zu weiteren Komplikationen führen.
Dennoch werden zunehmend Antidepressiva verschrieben.
Meine Einschätzung ist, dass Antidepressiva heute viel zu häufig verordnet werden und zu einer unnötigen Komplikationsrate führen. In der Bevölkerung, aber teilweise auch bei Ärzten ist immer noch die früher propagierte Meinung verbreitet, dass Antidepressiva die Ursachen von Depressionen beseitigen können. Sie wirken aber nur auf Symptome.
Was wäre die Alternative zum Einsatz von Medikamenten?
Nachhaltiger wirkt oft eine Psychotherapie. Tatsächlich zeigen die Zahlen der Helsana, dass auch die Zuweisungen an Psychologen für eine Psychotherapie zugenommen haben. Das unterstreicht, dass die Psychotherapie in der medizinischen Versorgung zunehmend einen grösseren Stellenwert bekommt.
Der Mann arbeitet bei einem Tech-Giganten aus dem Silicon Valley. Für seinen Job wird er beneidet: hoher Lohn, viele Zusatzvergütungen, permanent auf Reisen. Heute Dublin, morgen New York, übermorgen San Francisco. Doch der Job hat eine Kehrseite, über die der junge Zürcher nicht gern spricht: Er hält die hohe Belastung nur mit Psychopharmaka aus – würde er sie absetzen, wäre ein seelischer Zusammenbruch unvermeidbar.
Grund für den schlechten Gesundheitszustand des Marketing-Managers: die hohe Arbeitsbelastung, das unablässige Messen und Bewerten seiner Leistung, die ständige Erreichbarkeit ... Aber man braucht nicht für eine kalifornische Tech-Firma tätig zu sein, um sich in einem ungesunden Arbeitsumfeld wiederzufinden.
Seelische Erkrankungen und der Konsum von Psychopharmaka nehmen in der Schweiz deshalb zu. Bereits jeder fünfte Helsana-Versicherte nimmt mindestens einmal pro Jahr ein solches Medikament zu sich.
Erst kürzlich untersuchte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Schweizer Arbeitsmarkt im Hinblick auf psychische Erkrankungen. Die OECD stellte fest: Der Anteil von diesbezüglichen IV-Neurenten ist hierzulande sehr hoch. Sie empfiehlt deshalb, Reformen in die Wege zu leiten, damit Betroffene genesen können, bevor sie in der IV landen. Dazu gehört – vor jeder Therapie – ein gesundes Arbeitsumfeld.
Psychiater bestätigen die ungesunde Entwicklung: Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft bei gleichzeitiger Aufweichung des Arbeitnehmerschutzes führt zu einer sprunghaften Zunahme seelischer Erkrankungen. Fachleute fordern daher, dass nicht nur die Symptome einer Depression bekämpft werden, sondern auch der Arbeitnehmerschutz zu verbessern ist.
Sonst droht uns eine Welt, wie sie der englische Autor Aldous Huxley 1932 in seinem Klassiker «Schöne neue Welt» beschrieb: In diesem Zukunftsroman funktioniert die Gesellschaft nur noch mit Hilfe eines glücklich machenden Medikaments. Die Hauptfigur sieht dennoch nur den einen Ausweg – und bringt sich um. - Cyrill Pinto
Der Mann arbeitet bei einem Tech-Giganten aus dem Silicon Valley. Für seinen Job wird er beneidet: hoher Lohn, viele Zusatzvergütungen, permanent auf Reisen. Heute Dublin, morgen New York, übermorgen San Francisco. Doch der Job hat eine Kehrseite, über die der junge Zürcher nicht gern spricht: Er hält die hohe Belastung nur mit Psychopharmaka aus – würde er sie absetzen, wäre ein seelischer Zusammenbruch unvermeidbar.
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