Die Krankenkassenprämien steigen Jahr für Jahr – zum Teil exorbitant. Als Grund dafür werden häufig Patientinnen und Patienten angeführt, die zu oft zum Arzt gehen. Nun zeigen Recherchen des «Tages-Anzeigers»: Schuld ist auch der Tarif für ambulante Leistungen der Ärzte. Die Zeitung stützt sich dabei auf Daten von Santésuisse.
Beispiele, die dem «Tages-Anzeiger» vorliegen, haben es in sich. So hat etwa ein Neurologe Leistungen verrechnet, für die er an jedem Arbeitstag 26 Stunden im Einsatz hätte stehen müssen! Mehr als 400 Mediziner rechneten 12 Stunden oder mehr pro Werktag ab. Nur: Meist sind die Abrechnungen völlig legal entstanden.
20 Jahre altes Abrechnungssystem
Grund für die hohen Abrechnungen ist ein veraltetes System. «Der Tarif für ambulante ärztliche Behandlungen wurde vor 20 Jahren eingeführt und seither nie gesamthaft überarbeitet», wird Santésuisse-Direktorin Verena Nold im Artikel zitiert. Damals legte man fest, wie lange welche Behandlung dauert. Vieles lasse sich heute schneller durchführen, werde aber noch gleich vergütet.
Nold bezeichnet das System denn auch als «Geldmaschine» für einige Ärztinnen und Ärzte, die mit den veralteten Tarifen erhebliche Einnahmen erzielen können. Die Problematik erstreckt sich über verschiedene Facharztgruppen – von Radiologen über Magen-Darm-Spezialistinnen bis hin zu Augenärzten.
Als Beispiel wird im Artikel etwa die Scanning-Laser-Ophthalmoskopie genannt. Diese lässt sich heute viel schneller durchführen, gemäss Werbung oft «in wenigen Sekunden». Nach dem Tarmed wird sie allerdings noch immer mit 15 Minuten vergütet. Dies ermöglicht Ärzten, zahlreiche Scannings pro Tag zum Tarif von 15 Minuten abzurechnen.
Tarifstruktur mit dringendem Überarbeitungsbedarf
Trotz einer teilweisen Korrektur einzelner Tarife im Jahr 2018 bestehe weiterhin ein dringender Überarbeitungsbedarf für die gesamte Tarifstruktur, heisst es weiter. Die Schweizer Ärztevereinigung FMH hat zwar bereits einen neuen Einzelleistungstarif (Tardoc) und ambulante Pauschalen erarbeitet, um das Problem anzugehen. Allerdings hat der Bundesrat im Sommer 2022 entschieden, dass das Paket noch nicht genehmigungsfähig ist. Die Einführung des neuen Tarifs liegt nun in den Händen der neuen Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider (60).
Skepsis gegenüber dem neuen Arzttarif, der frühestens 2025 in Kraft tritt, gibt es auch aus der Politik. Er habe nicht viel Vertrauen in den neuen Tarif, sagt etwa Pierre-Yves Maillard (55), SP-Ständerat und Mitglied der Gesundheitskommission. «In zehn Jahren sind wir wieder am genau gleichen Punkt, die einzelnen Positionen sind veraltet und werden zu hoch vergütet.»
Tatsächliche Operationszeit auf der Rechnung
Er schlägt darum vor, dass künftig die tatsächliche Operationszeit auf jeder Rechnung anzugeben sei. Ein entsprechender Vorstoss wurde im Nationalrat angenommen und wird heuer im Ständerat behandelt.
Santésuisse gibt an, laufend Ärzte zu überprüfen, um Verdachtsfälle von überhöhten Rechnungen zu klären. Etwa 1700 Verdachtsfälle würden so pro Jahr identifiziert. Rund 60 davon müssten mit Rückforderungen rechnen. Auch der Neurologe, der 26 Stunden pro Tag abgerechnet hat, sei beim Verband bereits aktenkundig und müsse damit rechnen, Rückzahlungen zu leisten. (oco)