Dieser Piks ins Auge ist der wahrscheinlich am meisten überteuerte medizinische Eingriff der Schweiz: die Spritze gegen eine feuchte altersbedingte Makuladegeneration. Bis zu Fr. 1389.50 pro Anwendung spült sie dem Pharmahersteller Novartis und den Augenärzten in die Kassen.
Der Eingriff ist so einfach, dass Patientinnen im Minutentakt durch die Augenkliniken geschleust werden können. «Das läuft wie in einer Fabrik», sagt eine Insiderin.
Bundesrat kuscht vor Lobby
Der Bundesrat wollte diesem Treiben eigentlich per 1. Januar 2024 ein Ende bereiten. Doch er knickte vor der Gesundheitslobby ein. Die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler müssen deshalb auch dieses Jahr über 150 Millionen Franken zu viel zahlen, schreibt der Bundesrat. Allein für diesen einen Eingriff.
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Das Beispiel zeigt, wie die Pharma- und die Ärztelobby das Schweizer Gesundheitssystem ausnutzen. Doch Patientinnen, Krankenkassen und einzelne Ärzte hebeln die fragwürdige Preispolitik der Medikamentenhersteller heimlich aus. Mit einem einfachen Trick. Wie der funktioniert, zeigen Arztrechnungen – und Hintergrundrecherchen des Beobachters.
Kritische Patientin stellt Fragen
Elfie Grendene kämpft wie Tausende andere ältere Menschen mit einer schwindenden Sehkraft. «Ich erlitt in wenigen Monaten einen zunehmenden Sehverlust», sagt die 87-Jährige. Sie leidet an feuchter altersbedingter Makuladegeneration. Dagegen gibt es drei Medikamente – in der Schweiz dürfen jedoch nur die beiden teuersten verabreicht werden.
«Bei jeder Augenbehandlung kostet allein das Medikament knapp 1000 Franken. Als ich davon erfuhr, glaubte ich, ich höre nicht richtig», sagt Elfie Grendene. «Ich habe Mühe mit dieser Kommerzmedizin. Das bezahlen wir alle mit unseren Prämien. Kein Wunder, steigen die dann immer weiter.» Elfie Grendene wollte das nicht unterstützen. Und wechselte den Arzt. «Mein neuer Augenarzt sagte: ‹Bei mir kostet die Spritze viel weniger.›» Durch den Arztwechsel spart die Patientin auch selbst Geld. Denn wegen der tieferen Kosten muss sie weniger Selbstbehalt bezahlen.
Wirksam, aber nicht zugelassen
Das Rezept des neuen Arztes gegen die hohen Medikamentenpreise ist so einfach wie wirkungsvoll. Er spritzte seiner Patientin einfach das günstige Mittel Avastin in den Glaskörper des Auges – statt eines der beiden teuren Mittel. Das tun viele andere Ärztinnen und Ärzte auch.
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Denn aus medizinischer Sicht gibt es am preiswerten Avastin nichts auszusetzen. Es ist sicher und wirksam, das ist sogar gerichtlich festgestellt worden. Das einzige Problem: Avastin hat keine Zulassung als Augenheilmittel, weil die Herstellerfirma Roche das nicht will. Der Basler Pharmakonzern hat Avastin nie als Mittel gegen feuchte altersbedingte Makuladegeneration eintragen lassen. Es ist nur als Mittel gegen Krebs angemeldet. Wenn ein Arzt dennoch Avastin in die Augen spritzt, ist das ein sogenannter Off-Label-Einsatz. Das heisst, er wendet ein Medikament ausserhalb der offiziellen Zulassung an. Das ist erlaubt, wenn Patienten damit einverstanden sind.
Zehnmal so teuer wie das Alternativmittel
Wenn sich eine Ärztin für Avastin entscheidet, sinken die Medikamentenkosten auf einen Zehntel. Denn 90 Prozent günstiger ist Avastin pro Anwendung im Vergleich zu den beiden offiziell zugelassenen Medikamenten des Basler Pharmakonzerns Novartis. Konkret: Das Novartis-Mittel Lucentis kostet Fr. 866.75 pro Fertigspritze, das Novartis-Mittel Eylea Fr. 987.50. Avastin hingegen kostet bloss Fr. 80.95 pro Anwendung, wie Arztrechnungen zeigen, die dem Beobachter vorliegen.
Bund verbietet Kassen, zu sparen
Die Krankenkassen dürften diese Rechnungen aber eigentlich gar nicht bezahlen – aufgrund einer Verordnung des Bundes. Eine Bezahlung sei «nicht zulässig», betont das Bundesamt für Gesundheit auf Nachfrage. Die Krankenkassen haben jedoch einen kreativen Weg gefunden, die Direktive aus Bern zu umgehen.
Mehrere Krankenkassen bestätigen in Hintergrundgesprächen, dass sie Avastin-Rechnungen von Augenärzten anstandslos bezahlen. Man schaue in diesen Fällen einfach weg. Solange sie die Rechnung nicht kontrollierten, falle ihnen offiziell ja nichts auf. Deshalb sei ihr Verhalten rechtlich in Ordnung. Sie drückten bloss im Sinne der Prämienzahler und im Sinne der Wirtschaftlichkeit ein Auge zu. Das bedeutet: Um Kosten in der obligatorischen Grundversicherung zu sparen, müssen Krankenkassen das Gesetz umgehen.
175-Millionen-Franken-Busse für Roche und Novartis
Für diesen heimlichen Widerstand der Krankenkassen gibt es gute Gründe. In der Augenmedizin ist bereits seit 18 Jahren bekannt, dass Avastin wirkt. Vor fünf Jahren hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Avastin gegen feuchte altersbedingte Makuladegeneration eingesetzt werden darf. Und im Mai 2023 wurden Roche und Novartis in Italien sogar letztinstanzlich verurteilt – wegen wettbewerbswidriger Preisabsprachen bei den beiden Medikamenten Avastin und Lucentis. Die italienische Wettbewerbsbehörde wertete ihr Verhalten als Kartellbildung zum Schaden der italienischen Patientinnen und Patienten. Roche wurde zu einer Busse von 90,5 Millionen Euro verdonnert, Novartis zu 92 Millionen Euro.
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Die beiden Basler Pharmakonzerne hatten neun Jahre lang durch alle Instanzen gegen diese Bussen prozessiert – und verloren. Die italienischen Gerichte sind überzeugt, dass sich Roche und Novartis abgesprochen haben, um die Off-Label-Anwendung des billigen Arzneimittels Avastin zu verhindern. Da Roche und Novartis bei diesen Medikamenten über Beteiligungen und Lizenzverträge miteinander verflochten sind, profitieren beide davon.
Pharma ist sich keiner Schuld bewusst
Ein Novartis-Sprecher sagt, man bedauere den Entscheid Italiens. «Novartis ist der festen Überzeugung, dass das Unternehmen zu jeder Zeit angemessen und in Übereinstimmung mit dem Wettbewerbsrecht sowie den Interessen der Patientinnen und Patienten gehandelt hat.»
Eine Roche-Sprecherin sagt zur italienischen Millionenbusse nur: «Avastin ist nicht für die Behandlung von Augenkrankheiten zugelassen.» Die Aufgabe von Roche sei es, neue Medikamente zu erforschen und zu entwickeln.
Pharmakonzerne lobbyieren in der Schweiz gegen eine Lösung
Italien hat gehandelt, die Schweiz nicht. Der Bundesrat beugte sich im September 2023 den Forderungen der Gesundheitslobbys. Eine Mediensprecherin des Bundes sagt, dass die zuständigen Parlamentskommissionen von National- und Ständerat das Vorhaben stark kritisiert hätten. An einem runden Tisch habe das Innendepartement von Bundesrat Alain Berset deswegen «kompromissfähige Lösungen» gesucht und schliesslich darauf verzichtet, dem Gesamtbundesrat einen breiten Off-Label-Einsatz vorzuschlagen. So wurde der Off-Label-Einsatz von günstigen Medikamenten wie Avastin nicht wie geplant per 1. Januar 2024 legalisiert.
Roche und Novartis hatten in der Vernehmlassung darauf hingewirkt, den Bundesrat von seinem Vorhaben abzubringen. Der Novartis-Sprecher nennt dem Beobachter die Gründe: Ein weit verbreiteter Off-Label-Einsatz sei eine «Bedrohung für das etablierte rechtliche, medizinische und regulatorische System, das die behördliche Zulassung und den Einsatz von wirksamen und sicheren Medikamenten bei Patienten gewährleisten soll». Die Roche-Sprecherin sagt, das Vorhaben hätte die «gewährleistete Patientensicherheit untergraben und den Schutz des geistigen Eigentums unterwandert». Grundsätzlich sollten Arzneimittel nur in jenen Bereichen eingesetzt werden, für die sie entwickelt, geprüft und von Swissmedic zugelassen wurden.
Der Preisüberwacher bedauert hingegen, dass der Bundesrat «auf diese wichtige kostendämpfende Massnahme zugunsten der Prämienzahlenden verzichtet» habe. Sie hätte «ohne Qualitätseinbusse für die Patientinnen und Patienten» umgesetzt werden können.
Augenärzte verdienen sehr gut am Eingriff
Ärztinnen und Ärzte werden für das Setzen der Spritze auch bei einem Off-Label-Einsatz sehr gut bezahlt. Unabhängig davon, welches Medikament sie verwenden, dürfen sie für den kurzen Piks pro Auge zwischen 268 und 402 Franken verrechnen. Diese Kosten fallen zusätzlich zu den Arzneimittelkosten an. Das bestätigen der Krankenkassenverband Santésuisse und die Einkaufsgemeinschaft von Helsana, Sanitas und KPT.
Die Vergütung des Augenarztes ist deshalb so hoch, weil das Spritzen ins Auge im Tarifsystem Tarmed viel zu zeitintensiv bewertet wurde. Lange interessierte das niemanden. «Doch als das Medikament Lucentis auf den Markt kam, wurde dieser Vorgang zu einem Masseneingriff», sagt die zuständige Person bei einer grossen Krankenkasse. «Heute geht es in Augenkliniken zu und her wie in einer Fabrik. Die Praxishilfe gibt jedem ein Tröpflein ins Auge, und dann werden die Leute wie am Laufband behandelt.» Die Verabreichung einer Spritze ins Auge bezeichnet die Krankenkassen-Vertreterin als «die bekannteste übertarifierte Tarmed-Position».
Tiefere Ärzteentschädigung gefordert
Der Sprecher des Krankenkassenverbands Santésuisse bestätigt das: «Die Tarifierung dürfte in der Tat vergleichsweise eher hoch sein.» Der Spielraum für starke Preissenkungen sei aber wegen der hohen Tarmed-Positionen nicht vorhanden. Die Verhandlungen zu einem neuen Tarmed seien leider blockiert. Santésuisse sei deshalb unzufrieden und habe ein neues Pauschalensystem erarbeitet, das auf realen Kostendaten basiere und nicht auf dem Tarmed.
Elfie Grendene ist ihrem Arzt, der auf das günstige Avastin setzte, schlicht dankbar. «Er konnte den Rückgang meiner Sehkraft stoppen. Wie er es versprochen hat. Er hat mich ernst genommen mit meinen Bedenken gegenüber diesem Geschäft mit der 1000-Franken-Spritze.»