Die Aktion für eine unabhängige Schweiz (Auns) ist Geschichte. Der Stosstrupp von SVP-Übervater Christoph Blocher (82) gegen den EWR-Beitritt wurde gestern Samstag aufgelöst. Die Veranstaltung fand in der Mehrzweckhalle der Kaserne Bern statt – unweit des Kursaals, wo SVP-Nationalrat Albert Rösti (55) am Montag seine Bundesratskandidatur verkündet hatte.
Mit dem Zürcher Blocher-Flügel und der Auns hat der Berner Nationalrat nichts am Hut. Zwar betont Rösti sporadisch die Bedeutung der Unabhängigkeit, redet bei Gelegenheit einer starken Armee das Wort und warnt vor der Zehn-Millionen-Schweiz – alles Kernthemen der SVP Blocher'scher Prägung. Doch sie interessieren Rösti nur am Rande. Er macht Gesundheits- und Energiepolitik. Deshalb ist er auch Favorit für den frei werdenden Bundesratssitz des Zürchers Ueli Maurer (71).
Als Präsident der nationalrätlichen Gesundheitskommission wirkte Rösti an zahlreichen überparteilichen Kompromissen in der Pandemie mit. «Er versteht die Anliegen der anderen Seite und hilft, gemeinsame Lösungen zu finden», sagt ein Kommissionsmitglied. «Vor allem aber kann er diese anschliessend auch den eigenen Leuten verkaufen.»
Der Berner Bauernsohn ist ein Netzwerker
Richtig in Fahrt kommt Rösti aber in der Energiepolitik, und zwar im Zickzackkurs. Als Vertreter der Öl- und Atomlobby – Rösti war viele Jahre Präsident von Swissoil sowie der atomfreundlichen Aktion für eine vernünftige Energiepolitik Schweiz (Aves) – kämpfte er 2017 gegen die neue Energiestrategie und 2019 gegen das CO2-Gesetz. Er warnte: «Greta Thunberg überschattet die wirklichen Gefahren für die Schweiz.» Heute macht er sich als Präsident des Wasserwirtschaftsverbandes (SWV) für grünen Strom stark. Rösti ist aber auch Präsident von Auto-Schweiz und fordert drei Spuren auf den zentralen Autobahn-Hauptachsen.
Der Berner Bauernsohn ist ein Netzwerker, der hinter den Kulissen die Fäden zieht – besonders in der Energiekommission. «Rösti ist ein Profi», sagt ein Kommissionsmitglied. «Er ist klar auf SVP-Linie, aber fähig zu Absprachen über die Parteigrenzen hinweg.»
Jüngstes Beispiel ist der von Rösti vorangetriebene Einbezug der Grimsel-Staumauer in die überparteiliche Solaroffensive. Der mächtige SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi (43) war dagegen. Die zwei Parteikollegen stritten sich so laut, dass sie aus dem Sitzungszimmer der Energiekommission geschickt werden mussten. Am Ende behielt Rösti die Oberhand. Der Wasserkraft-Lobbyist setzte die Erhöhung der Grimsel-Staumauer durch, die SVP sagte Ja zum raschen Bau alpiner Solaranlagen.
Röstis Slaloms im Parlament schaden ihm nicht
Rösti ist das Energie-Gesicht der Volkspartei, die sich auf diesem Feld lange schwertat. Das neue SVP-Sünneli strahlt nicht mehr aus Zürich, wo gerade mit einer Neutralitätsinitiative um die Unabhängigkeit gerungen wird, sondern aus Bern, wo das Megathema der Energiewende im Fokus steht.
Röstis Slaloms im Parlament und seine divergierenden Lobby-Aktivitäten schaden ihm nicht. Bei einer Bundesratskandidatur sind nicht Widersprüche, sondern Anzahl und Gewicht der Interessenvertretungen entscheidend – und da ist Rösti vorn dabei. Genau wie Guy Parmelin (62), der 2015 als Vertreter von Bauern, Arbeitgebern und Militär gewählt wurde. Rösti steht für eine geballte Ladung Energiewirtschaft aus fast allen Lagern. Öl, Atom und Wasserkraft sind im Bundeshaus eine Macht.
Deshalb ist auch klar, wo es Rösti hinzieht. «Sein Ziel ist das Energiedepartement», sagt Politologe Claude Longchamp (65). «Damit würde er in ein zentrales Zukunftsfeld vorstossen – und mit ihm seine Partei. Für die SVP wäre das ein Coup.» Gute Gründe für einen Energieminister Rösti gäbe es auch aus Sicht der anderen Parteien. So könnten sie die SVP in die Energiewende einbinden. «Das macht Rösti zum Favoriten», sagt Longchamp.
Die Organisation Klimastreik Schweiz schreibt auf Twitter: «Es ist 2022 und der Ölbert will Bundesrat werden.» Gut möglich, dass es so kommt. Denn Energie ist der Schlüssel zum Bundesrat. Doch wie würde die Energiewende unter Röstis Leitung aussehen? «Auf jeden Fall anders als unter Simonetta Sommaruga», sagt Politologe Longchamp. Die Kernfrage lautet: Ist Versorgungssicherheit ausschliesslich mit Erneuerbaren möglich? Die EU zählt die Atomkraft mittlerweile zu den grünen Energien. Die SVP sah das schon immer so, auch die FDP hat diese Haltung übernommen. Zwei Winter mit Versorgungsschwierigkeiten könnten reichen, um die Diskussion über neue AKW in der Schweiz zu entfachen, sagt Longchamp. «Dann spielt es eine Rolle, ob die SP oder die SVP federführend ist. Ein Bundesrat entscheidet nicht alleine, steuert aber Prozesse. Rösti könnte neue AKW durchsetzen.»
In der Bevölkerung geniesst er grösste Zustimmung
In einer Volkswahl würde der Berner durchmarschieren, wie die grosse Umfrage von SonntagsBlick zeigt. Er geniesst mit Abstand die grösste Zustimmung, auch innerhalb der SVP. Doch gewählt wird in der Vereinigten Bundesversammlung. Dort dürfte Rösti viele Stimmen von SVP und FDP erhalten. Entscheidend sei am Ende die Mitte, sagt Longchamp. «Und für sie ist Konkordanzfähigkeit das zentrale Kriterium.»
Da gibt es im Fall Rösti wenig zu deuteln. Er gilt bei allen Parteien als konziliant und kompromissbereit. «Er ist zur übergreifenden Zusammenarbeit fähig», sagt eine Nationalrätin aus dem Zentrum des politischen Spektrums. Er sei ausserdem gut lesbar, sagt ein linkes Ratsmitglied: «Wenn Rösti haarsträubende SVP-Positionen vertritt, an die er selbst nicht glaubt, wird er rot im Gesicht.»
2010 verpasste Albert Rösti die Wahl in den Berner Regierungsrat. 2015 scheiterte seine Ständeratskandidatur. In seiner Zeit als SVP-Präsident verwarf das Volk die Durchsetzungs- und die Selbstbestimmungsinitiative. Als 2019 auch noch Sitzverluste der SVP im Parlament folgten, gab Rösti auf Druck von Christoph Blocher das Präsidium ab.
Jetzt ist er zurück. «Ich möchte Bundesrat werden», sagte Rösti am Montag. Er wiederholte das Mantra einer unabhängigen und sicheren Schweiz, für die er sich einsetzen wolle. Der Kandidat sagte aber auch, er habe Herrliberg nicht um Erlaubnis gefragt.
30 Jahre nach Blochers Sieg über den damaligen Berner SVP-Bundesrat Adolf Ogi (80) in der Europafrage kehrt die Macht innerhalb der Volkspartei in deren Stammlande zurück. Denn heute geht es um Energie.