«Ein Impfobligatorium ist möglicherweise notwendig»
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Das meint Cassis:«Ein Impfobligatorium ist möglicherweise notwendig»

Neuer Bundespräsident Ignazio Cassis
Ein Impfobligatorium «kann nützlich sein»

Der neue Bundespräsident Ignazio Cassis wird das Land auch als ausgebildeter Mediziner durch die Krise führen. Die direkte Demokratie hält er dabei nicht für «zwingend das beste Instrument zur Pandemie-Bewältigung». Eine Impfpflicht wäre aber nur der letztmögliche Weg.
Publiziert: 16.12.2021 um 08:25 Uhr
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Aktualisiert: 16.12.2021 um 08:49 Uhr
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Bundesrat Ignazio Cassis wird die Schweiz 2022 als Bundespräsident und ausgebildeter Mediziner durch die Pandemie führen.
Foto: Daniel Kestenholz

Kritik am Bundesrat und dessen Corona-Politik lässt Aussenminister Ignazio Cassis (60) nicht gelten. Der Freisinnige steht vor seinem Präsidialjahr. Er wird die Schweiz als Bundespräsident sowie als Mediziner durch die Pandemie führen. Der ehemalige Tessiner Kantonsarzt könnte sich als umsichtiger Stratege in Zeiten der Corona-Krise erweisen. Dabei bleibt Cassis ganz dem Kollegialitätsprinzip innerhalb der Landesregierung verpflichtet. Er will etwa nichts davon wissen, dass der Bundesrat zu lange nachsichtig mit Ungeimpften gewesen sei.

Die Schweiz lasse nicht zentralistisch wie etwa Frankreich regieren, sagt Cassis im Gespräch mit dem Zeitungsverbund von CH Media. Beim «Management einer Pandemie muss der Bundesrat darauf achten, den Interessen der gesamten Gesellschaft Rechnung zu tragen». Oberstes Ziel sei, die Kapazitäten der Spitäler zu gewährleisten. Es gebe nicht nur an Covid-Erkrankte, sondern auch Krebs-, Herzpatienten oder Unfallopfer. «Wenn wir die Spitalkapazitäten sichern wollen, müssen wir bei den Verursachern ansetzen. In der Pandemie sind das vor allem die Ungeimpften. Von den Covid-Patienten machen sie auf den Intensivstationen aktuell mehr als 70 Prozent aus.»

Cassis will Skeptiker mit Argumentation und der Geduld überzeugen, die bei vielen Geimpften zu bröckeln scheint. Als ehemaliger Kantonsarzt habe er «gelernt, Geduld zu entwickeln mit Menschen, die Impfungen ablehnen. Aus rein medizinischer Sicht würde sich ein Impfbefehl aufdrängen. Aber auf unserer Welt leben Menschen und keine Roboter». Dabei würden auch logische Argumente nicht immer überzeugen. Cassis macht den Vergleich, wie schwierig es sein könne, jemanden zu überzeugen, mit dem Rauchen aufzuhören.

Impfstatus kein striktes Kriterium bei Triage-Entscheiden

Ein Impfobligatorium wie in Österreich will er «nicht einfach kategorisch ausschliessen». Er erinnert sich an seine Zeit als Tessiner Kantonsarzt. Die Diphtherie-Impfung war obligatorisch und zwingende Voraussetzung für den Schulbesuch. Nach einigen Jahren habe er «realisiert, dass die Impfung Opfer ihres eigenen Erfolgs war. Wer die Impfung ablehnte, sagte, die Krankheit Diphtherie gebe es ja gar nicht mehr. Sie hatten nicht unrecht. Die Durchimpfungsquote lag bei über 90 Prozent. Damit war Herdenimmunität erreicht, und wir konnten das Obligatorium aufheben. Von einer solch hohen Impfquote sind wir bei Corona leider noch weit entfernt.»

«Absolut», sagt Cassis, ein Impfobligatorium «kann nützlich sein». Der Magistrat betont die Wichtigkeit der «richtigen Wortwahl». Impfpflicht sei jedoch ein «massiver Einschnitt in die persönliche Freiheit». Nehme die Zahl der Todesfälle aber plötzlich stark zu, «muss man als Ultima Ratio auch über ein Impfobligatorium nachdenken».

Auf die Frage, ob der Impfstatus bei Triage-Entscheiden berücksichtigt werden soll, hält sich Cassis an die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften. Dort wird sorgfältig abgewogen zwischen medizinischen, ethischen und politischen Aspekten. «Patientenmerkmale wie der Impfstatus dürfen nicht als striktes Kriterium gelten.»

Nationaler Zusammenhalt wichtig

Der Bundesrat habe auch nicht zu lange mit Massnahmen wie 2G zugewartet. Diese gehörten sorgfältig abgewägt und die Kantone mit an Bord geholt: «Mit Massnahmen kann man auch Schaden anrichten. Denken Sie an Menschen, die ihre Arbeit und Existenz verloren haben; denken Sie an Familien, die Kinder unter prekären Bedingungen zu Hause unterrichten mussten. Sie können relativ leicht aus dem Gleichgewicht geraten. Viele Menschen verlieren in der Pandemie die Orientierung und wirken verloren. Das ist meine grosse Sorge. Die soziale Ruhe, der nationale Zusammenhalt sind enorm wichtig.»

Jeder vermeidbare Tod sei einer zu viel, sagt Cassis. Dennoch habe es die moderne Gesellschaft verlernt, mit dem Tod umzugehen. Der Bundesrat führt ein persönliches Beispiel an: «Als mein Grossvater gestorben ist, hat man mich aus der Schule geholt. Während zweier Tage blieb die Leiche noch zu Hause. Ich konnte Abschied nehmen und habe mich mit der Endlichkeit des Lebens befasst.»

So habe er «früh gelernt», sagt Cassis, «dass der Tod zum Leben gehört. In der heutigen Gesellschaft wird der Tod oft in die Spitäler ausgelagert. Der Tod wird so immer mehr zu einer fast schon technischen Angelegenheit. Das Leben ist endlich. In den westlichen Wohlstandsgesellschaften haben wir tatsächlich ein Problem mit dem Tod.» (kes)

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