Netzkosten explodieren
Strombranche knöpft uns zusätzliche 90 Millionen ab

Die Kunden mussten 2024 mindestens 90 Millionen Franken mehr bezahlen als erwartet – ohne Zusatznutzen. Jetzt schreitet der Staat ein.
Publiziert: 06.01.2025 um 19:58 Uhr
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Aktualisiert: 07.01.2025 um 07:49 Uhr
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Mit vier Zwangsmassnahmen sollen die Stromkosten künftig gesenkt werden.
Foto: imago/CHROMORANGE

Auf einen Blick

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Yves Demuth
Beobachter

Das Jahr 2024 endete mit einem Rekord. Die Solaranlagen in der Schweiz erzeugten ungefähr so viel Strom wie das Atomkraftwerk Beznau. So viel wie noch nie.

Weil neuerdings so viel Sonnenenergie ins Stromnetz fliesst, werden Wetterprognosen entscheidend. Denn ob morgen die Sonne scheint oder nicht, fällt ziemlich ins Gewicht. 

Unerwarteter Schnee kostet drei Millionen Franken pro Stunde

Am Montag, 22. April 2024, waren die Prognosen falsch. So falsch, dass der Schweiz ein Blackout drohte. Entgegen den Wetterprognosen vom Freitag schneite es an jenem Montag bis in die Niederungen. Zahlreiche Fotovoltaikanlagen lieferten unerwartet null Energie. 

Um 14 Uhr fehlte im Netz so viel Strom, wie das Atomkraftwerk Leibstadt produziert. Das ist das grösste Kraftwerk der Schweiz. Die nationale Netzgesellschaft Swissgrid musste sofort reagieren, um ein Blackout zu verhindern.

Swissgrid rief bei Kraftwerken sogenannte Regelenergie ab. Damit lässt sich ein Ungleichgewicht im Stromnetz ausbalancieren. Diese Regelenergie muss binnen Minuten ins Netz eingespeist werden. Und das kostet.

Zahlen müssen die Kundinnen und Kunden

Drei Millionen Franken musste Swissgrid zahlen, um das Netz allein an jenem Montag von 14 Uhr bis 15 Uhr stabil zu halten. Der Preis lag bei über 2000 Franken pro Megawattstunde, zeigen die Daten von Swissgrid.

Zahlen müssen das am Ende die Stromkundinnen und -kunden. Zum Vergleich: Der kurzfristige Normalpreis lag in jener Stunde bei rund 70 Franken pro Megawattstunde. 

«System an der Belastungsgrenze»

Regelenergie ist ein lukratives Geschäft für Stromkonzerne wie Axpo, Alpiq und BKW. Und das lukrative Geschäft wird immer grösser. 

«Das System war in den letzten Monaten mehrmals an seiner Belastungsgrenze», warnte ein Kadermann der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid im November 2024 an einem Branchenanlass. Das zeigt eine umfassende Präsentation, die dem Beobachter vorliegt. 

Kosten sind regelrecht explodiert

Darin listet Swissgrid allein für den Sommer 2024 acht Vorfälle auf, bei denen das Netz nur mit grosser Mühe im Gleichgewicht gehalten werden konnte. Die Kosten für Regelenergie sind deshalb im vergangenen Jahr regelrecht explodiert. 

Wie gravierend das Problem ist, zeigen die starken Gegenmassnahmen, die nun in Kraft treten. Weil niemand will, dass der Solarstrom-Ausbau unbezahlbar wird, werden der Strombranche die Profite gekürzt und die falschen finanziellen Anreize gestrichen. Mit vier Massnahmen.

Zwangsmassnahme 1: Tägliche Updates für Wetterprognosen

Swissgrid hält nicht viel von der Qualität der Wetterprognosen. «Shit in, shit out», sagte dazu ein Fachmann an der Branchentagung. 

Das Grundproblem: Wenn die Wetterprognose falsch ist, kann das der Strombranche egal sein. Sie muss zwar teure Regelenergie einkaufen, aber nichts dafür bezahlen. Das tun nämlich die Konsumentinnen und Konsumenten. 

Das führe dazu, dass die Stromunternehmen niemanden anstellen, um am Samstag und am Sonntag die Wetterprognose zu aktualisieren, erklärte der Swissgrid-Fachmann an der Tagung. Die Prognose werde am Freitag erstellt und gelte dann für die nächsten drei Tage. Die Folge: Am Montag ist die Prognose oft falsch, und für die Konsumenten wird es teuer. 

Damit soll ab sofort Schluss sein. Seit Jahresbeginn müssen die verantwortlichen Stromunternehmen aufgrund neuer Verträge täglich aktualisierte Wettervorhersagen benutzen. Damit hofft Swissgrid das Problem zu lösen.

Zwangsmassnahme 2: Aufsicht verordnet Preisobergrenze

Die Aufsichtsbehörde Elcom führt im März 2025 eine Preisobergrenze ein – für eine bestimmte Sorte von Regelenergie. Sogenannte Sekundärregelenergie darf nur noch 1000 Euro pro Megawattstunde kosten. Bisher musste die Swissgrid bis zu 15’000 Euro dafür zahlen. Die Obergrenze soll bis Ende Jahr befristet sein, wie der Branchendienst Energate zuerst berichtete. Sekundärregelenergie muss spätestens fünf Minuten nach Abruf im Netz sein.

Dieser radikale Schritt erstaunt. Für gewöhnlich bestimmen in der Schweiz Angebot und Nachfrage den Preis. Doch offenbar spielen die Marktkräfte hier nicht mehr genügend. 

Die Eidgenössische Elektrizitätskommission Elcom bezeichnet die «Extrempreise» jedenfalls als «mögliche Folge von mangelndem Wettbewerb». Die hohen Preise seien seit dem Sommer «nicht fundamental begründet». Eine Preisobergrenze sei deshalb «notwendig und verhältnismässig», schreibt sie dem Beobachter. 

Der Grund für den mangelnden Wettbewerb: Es gibt nur 14 Anbieter für diese Sorte Regelenergie. Und laut einem Experten ist es relativ einfach, hier mit legalen Mitteln die Preise hochzuhalten. 

Schuld daran ist auch das neue Beschaffungsregime «Picasso» der Swissgrid. Dieses hat der Beobachter bereits vor zwei Jahren kritisiert. Nun bestätigt die Elcom: Das neue Beschaffungsregime habe allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 zu Mehrkosten von knapp 90 Millionen Franken geführt.

Die Stromkunden mussten im gesamten vergangenen Jahr somit rund 100 Millionen Franken mehr bezahlen als im alten Beschaffungssystem. Ohne Zusatznutzen.

Die Zürcher Stromhandelsfirma Ompex kritisiert die hohen Kosten in diesem Bereich schon länger. Im neuen Beschaffungsregime gebe es wenige Anbieter, der Markt sei nicht flüssig. In einem Analysepapier fragt Ompex deshalb: «Haben wir einen effizienten Markt oder ein Oligopol?»

Müssen die Konsumenten also zu viel bezahlen wegen Preisabsprachen der Strombarone? Die Wettbewerbskommission verneint. Die überhöhten Preise müssten nicht zwingend auf kartellrechtswidriges Verhalten zurückzuführen sein, sagt Vizedirektorin Carole Söhner-Bührer gegenüber dem Beobachter. «Möglich ist beispielsweise auch, dass öffentlich zugängliche marktrelevante Informationen einseitig genutzt werden, um die eigenen Offerten für Sekundärregelenergie zu optimieren.»

Zwangsmassnahme 3: Einpreissystem wie in Deutschland

Das Pikante: In der Schweiz explodieren die Kosten für Netzenergie – in Deutschland geschieht das Gegenteil. Trotz starkem Ausbau beim Solarstrom benötigt Deutschland weniger Ausgleichsenergie, zeigt eine Studie. 

Der Unterschied: In der Schweiz gelten falsche Anreize für die Stromunternehmen. Wer anderen hilft, Schwankungen im Netz auszugleichen, wird unter Umständen bestraft statt belohnt – so das Fazit der Ompex-Analyse. Swissgrid bestätigt das Problem. Ein neues Einpreismodell soll das ab 1. Januar 2026 ändern. Die neue Lösung kann laut Ompex die Menge an benötigter Ausgleichsenergie deutlich senken. Davon profitieren die Konsumentinnen und Konsumenten. 

Zwangsmassnahme 4: Solaranlagen ferngesteuert abschalten

Die Schweiz werde in den Sommermonaten künftig eine «erhebliche Überproduktion» von Sonnenstrom erleben, heisst es in der brancheninternen Präsentation von Swissgrid. Es gebe grosse Herausforderungen bei der Integration von Fotovoltaikanlagen ins Stromnetz.

Das hat auch der Bund erkannt. Der Bundesrat wird deshalb diesen Frühling eine neue Verordnung verabschieden, wie das Bundesamt für Energie bestätigt. Voraussichtlich ab 1. Januar 2026 sollen die Netzbetreiber drei Prozent der Jahresproduktion einer Solaranlage abregeln dürfen.

Sprich: Die Netzbetreiber dürfen den Anlagen ferngesteuert jederzeit den Stecker ziehen, wenn das Stromnetz an sonnigen Sommertagen überlastet ist. Die neuen Zwangsabschaltungen benötigen keine Zustimmung der Fotovoltaikbesitzer und werden nicht entschädigt.

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